Der Wanderchirurg
du, Nunu, es zur Abwechslung sein, der die Kurzweil einer Folter kennen lernt. Schließlich bist du für die Gefangenen verantwortlich.«
Der Koloss wurde blass.
»Ich bin sicher, dass die Ratte viel Vergnügen daran hätte, die Ziegenfolter an dir auszuprobieren.«
»Neinneinnein!« Der bärenstarke, der gewaltige, der unzerstörbare Nunu zitterte plötzlich wie Espenlaub. Ein Gefühl der Genugtuung durchströmte Vitus, und ein Gedanke keimte in ihm auf, ein zartes Pflänzlein zunächst nur, doch je länger er über den Einfall nachdachte, desto machbarer erschien er ihm.
»Es muss jetzt alles sehr schnell gehen!« Vitus sah Nunu eindringlich an. »Jede Sekunde zählt!«
»Jaja, aber was soll'n wir bloß machen?« Es fehlte nicht viel, und der Koloss hätte die Hände gerungen.
»Wir werden Martinez unten in der Cella II dem Pajo übergeben, die Strömung wird seine Leiche fortspülen, irgendwohin, wo ihn niemand kennt.«
»Ja! Gut!« Nunu war Feuer und Flamme. »Wo ihn niemand kennt!«, wiederholte er froh. »Aber wie kommt er'n in den Pajo?« Seine Stirn schlug Falten, dann dämmerte es ihm: »Du kennst die Eiserne Jungfrau!«, platzte er heraus.
»Erraten. Wir lassen die Leiche von der Jungfrau umarmen und betätigen die Falltür. Die zerschnittenen Teile fallen nach unten in den Fluss und werden fortgespült. Eine todsichere Sache.« Vitus wunderte sich, wie unbeteiligt seine Stimme klang.
»Is gut!« Nunu bückte sich nach dem Toten. »Fass de mit an, Ketzerdokter?«
»Nein, die Leiche von Martinez bleibt erst einmal hier. Du gehst allein vor. Du besorgst Eisenketten oder andere Gewichte, mit denen wir den Toten beschweren können. Es wäre verräterisch, wenn die Leichenteile zu früh an die Oberfläche gelangen würden, verstehst du?«
»Ja, ich ...«
»Gut. Die Eisenteile legst du vor der Jungfrau ab, griffbereit, wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn wir mit dem Toten in der Kammer eintreffen.«
»Ja ...«
»Wenn alles vorbereitet ist, kommst du sofort wieder her. Der Magister und ich schaffen's allein nicht, die Leiche so weit zu schleppen, ist das klar?«
»Is klar.«
»Dann schwirr ab. Und mach schnell!«
»Jaja.« Der Koloss stürzte hinaus.
»Was soll das alles, Vitus?«, fragte der Magister müde, als sie allein waren. Er hatte sich etwas beruhigt und konnte wieder klar denken. »Nunu wird zur Rechenschaft gezogen werden, egal, ob Martinez verschwunden ist oder nicht.«
»Natürlich«, antwortete Vitus. »Uns beiden ist das klar. Aber Nunu ist zu beschränkt, um so weit zu denken. Und das ist gut so, denn ich habe einen Plan. Sein Gelingen ist für mich lebensnotwendig, weil ich in größter Gefahr bin. Ich muss fliehen, auf Biegen oder Brechen. Wenn ich es nicht schaffe, wird man mich wieder foltern, und ich bin sicher, dass ich dem Tod nicht ein zweites Mal von der Schippe springen kann. Bischof Mateo war außer sich vor Wut.«
»Erzähl mir alles«, drängte der kleine Gelehrte. »Egal, was passiert, ich bin an deiner Seite.«
Und Vitus berichtete in fliegender Hast. Wie immer war der Magister ein aufmerksamer Zuhörer. Am Ende sagte er: »Es gibt tatsächlich nur eine Möglichkeit für dich, und die heißt Flucht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber wie gesagt, ich komme mit, vier Augen sehen mehr als zwei, auch wenn die meinen etwas kurzsichtig sind.«
Er blinzelte. »Die Frage ist nur, wie wir von hier fortkommen.«
»Du bist ein guter Freund! Das Ganze wird bestimmt kein Spaziergang.«
»Ach, ich vertrete mir gern mal die Beine. Wie lautet dein Plan?«
»Der Dreh-und Angelpunkt dabei ist Nunu. Ihn müssen wir unschädlich machen, und ich weiß auch schon, wie ...«
»'s is alles erledigt, Ketzerdokter!«, rief Nunu schon vom Gang her, während er sich mit eiligen Schritten näherte. Gleich würde er durch die angelehnte Tür hereinkommen.
Vitus nickte dem Magister zu: »Wenn das Monstrum über die Schwelle tritt, handelst du.«
»Ich tu mein Bestes.« Der Magister stellte sich links neben die Tür, dorthin, wo sie nach innen aufschwingen würde. Er presste sich dicht an die Wand, damit Nunu ihn beim Eintreten nicht sehen konnte.
»Hoffentlich klappt's!« Vitus packte den Datumstein fester. »Es muss klappen.« Die Tür wurde aufgestoßen, der Koloss trat ein. Sekundenschnell schoss der kleine Mann vor und stellte ihm ein Bein. Nunus schwerer Leib verlor das Gleichgewicht. Er fiel kopfüber in einen großen Haufen Stroh, den Vitus und der Magister in der
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