Der Wanderchirurg
unverständliche Formel und zog mit einer raschen Bewegung das Tuch vom Kasten. Er war völlig unversehrt.
Mit einem graziösen Sprung befreite sich Maja - heil und gesund.
Alle sprangen auf, denn das, was sie soeben gesehen hatten, gab es nicht. Konnte es einfach nicht geben! Es war unmöglich, einen Frauenkörper in der Mitte durchzusägen und anschließend wieder zusammenzufügen. Oder war er gar nicht zerteilt worden? Wenn ja, wie war es Zerrutti gelungen, das menschliche Auge so vollkommen zu täuschen? Zaghaft erst, dann immer stärker spendeten sie Beifall.
»Das grenzt an Zauberei, Kinder«, sprach Orantes bewundernd zu seinen Sprösslingen.
»Benutzt um Gottes willen nicht das Wort Zauberei!«
Wie aus dem Nichts stand Arturo plötzlich neben ihnen.
»Es ist ein Wort, auf das die Inquisition in Kastilien besonders empfindlich reagiert.«
»Wem sagt Ihr das!«, versetzte der Magister.
»Aber ich spreche wohl für alle, wenn ich Euch meine höchste Anerkennung für die Darbietungen Eurer Truppe zolle.«
»Nun«, Arturo zuckte geschmeichelt mit den Schultern,
»ich danke Euch, aber die Artistas unicos sind nicht meine Truppe, wir sind gleichberechtigte Künstler, die nur der Zufall zusammengeführt hat.«
»Aber Ihr tut doch von allen am meisten«, wunderte sich Vitus, »Ihr tretet als Jongleur auf, Ihr kündigt die einzelnen Nummern an, ja, Ihr kümmert Euch sogar um Quartier und Wasser.«
»Einer muss es ja tun, und ich mache es gern.« Arturo winkte das Zigeunermädchen heran. »Wenn Ihr wollt, wird Tirzah Euch noch die Zukunft aus der Hand lesen.«
»Nein, nein, danke, kein Bedarf!« Hastig versteckte der Magister seine Hände hinter dem Rücken. »Das, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, nimmt mir die Neugier auf die Zukunft.« Orantes streckte die Innenseite seiner schwieligen Rechten vor. »Nun, so versucht es mal mit mir, Senorita! Bin doch gespannt, was die kommende Zeit bringt.« »Bitte folgt mir, Senior«, bat Tirzah mit tiefer, melodiöser Stimme, »ich weissage nur im Wagen.« Ihre Hand deutete auf das Gefährt, in dem sie und ihr Vater hausten. Ana hakte ihren Mann unter. »Ich komme mit.«
Während er Tirzah, Orantes und Ana nachblickte, sagte der Magister beeindruckt: »Ihr habt sehr viel Idealismus, Arturo, übt Ihr schon immer diese Tätigkeiten aus?«
»Nein, Herr Magister. Erst seit ungefähr drei Jahren. Vorher war ich Maestro di scherma.«
»Wie bitte?«
»Ich war Fechtmeister. Meine Kunst lehrte ich an einer Fechtschule in Florenz. Ich bin Italiener, wie Ihr vielleicht schon an meinem Spanisch gemerkt habt.«
»Allerdings, Eure Aussprache hört sich für spanische Ohren etwas ungewohnt an. Aber warum arbeitet Ihr nicht mehr als Maestro di... di... ?«
»Als Maestro di scherma. Nun, der Grund ist eine Entwicklung, von der nicht nur ich betroffen bin, sondern meine Berufskollegen im ganzen Abendland. Es ist eine längere Geschichte. Wollt Ihr sie hören?«
»Unbedingt! Ich liebe Geschichten! Kommt, wir setzen uns ins Gras zu den Kindern.«
»Einverstanden.« Arturo ließ sich bereitwillig nieder. Sein Blick streifte kurz Orantes' Sprösslinge, die sich darin übten, auf Grashalmen zu blasen, was hin und wieder schauerliche Töne hervorrief. Ungeachtet dessen hob er an: »Nun, man muss wissen, dass ab dem 14. Jahrhundert die Waffentechnik umwälzend erneuert wurde, und zwar durch Pistolen und Musketen, deren Geschosse in der Lage waren, eine Ritterrüstung spielend zu durchschlagen. Mit der Folge, dass die gepanzerten Herren ihre Unbesiegbarkeit verloren. Das Rittertum versank, stattdessen gewannen die Städte immer mehr Einfluss. Schwere Geschütze kamen auf, mit denen eine Stadtmauer erfolgreich verteidigt werden konnte, und leichte Handwaffen brachten Überlegenheit im Nahkampf. Das Schwert, häufig so klobig, dass es nur mit zwei Händen geführt werden konnte, musste dem Degen weichen, einer schmaleren Klinge, die dem Träger das blitzschnelle Agieren ermöglicht.«
Er machte eine Pause, weil das Quäken der Grashalme überlaut wurde, dann sprach er weiter: »Jeder Bürger, der etwas auf sich hielt, übte sich alsbald im Degenfechten. In vielen Metropolen entstanden nach dem Vorbild der Zünfte so genannte Fechtergesellschaften, und allerorten schössen Fechterschulen wie Pilze aus dem Boden.«
»Aber das hört sich doch alles sehr gut an!«, meinte der kleine Gelehrte.
»So weit ja, aber gerade in den letzten Jahrzehnten wurden mehr und mehr
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