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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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sich von seinen Gedanken los und sagte müde: »Tirzah, ich hole dir frisches Wasser für die Umschläge.«
    Er nahm eine Schüssel und stelzte vorsichtig zur hinteren Tür, denn durch die Habseligkeiten der Kranken war es im Wagen noch enger geworden. Wenigstens der Morgen schien schön zu sein, mit Sonnenschein und frischer, klarer Luft. Er stieß die Tür auf, atmete tief durch und wollte die kleine Stufe davor hinuntersteigen. Doch mitten in der Bewegung verharrte er. Fünf Schröpfgläser lagen da. Fünf kugelrunde, schöne Schröpfgläser. Er bückte sich neugierig, denn in einer der Kugeln hatte er ein Stück Papier entdeckt. Er klaubte es heraus und entfaltete es. Darauf stand:
    Für Vitus von Campodios. Von…….
    Kopfschüttelnd steckte er die Nachricht ein. Was war zu tun? Zunächst mussten die Gläser in Sicherheit gebracht werden, damit niemand versehentlich auf sie trat. Vorsichtig hob er sie auf und trug sie in den Wagen, wo er sie Tirzah präsentierte. »Ein unbekannter Spender hat uns zu Schröpfkugeln verholfen.«
    »Wie? Wer?« Ihr Kopf erschien über der Wolldecke, hinter der sie Senora Lopez die nächtliche Senfpackung entfernte.
    »Ich habe keine Ahnung.« Er las ihr die geheimnisvolle Botschaft vor. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Handschrift winzig klein war.
    »Brennt die Öllampe auch gut?«, rief Vitus über die Wolldecke hinweg. Er kam sich sehr unnütz vor.
    »Ja, alles ist so, wie der Herr Cirurgicus es befohlen hat.« Tirzahs Ton war leicht gereizt. Sie befand sich auf der anderen Seite und hatte den Oberkörper von Senora Lopez völlig bloßgelegt, was auch der Grund dafür war, dass Vitus nicht mit ans Krankenbett durfte. Der Anstand, und natürlich die Heilige Mutter Kirche, verboten es, eine nackte, verheiratete Frau zu betrachten - sofern es nicht die eigene war. »Du hältst die Öllampe unter die Öffnung der Kugel, damit die Flamme die darin befindliche Luft verschlingt. Sowie das geschehen ist, musst du den Glaskörper auf die vergifteten Stellen drücken. Die Kugel neigt dazu, sich wieder mit Luft voll zu saugen, kann es aber nicht, weil sie auf der Haut sitzt. Statt der Luft saugt sie also die Haut an, und dort, wo in der Kugel vorher Luft war, sammeln sich jetzt die Giftstoffe aus dem Körper.«
    »Ja, Herr Cirurgicus, Ihr habt es mir mindestens schon zehnmal erklärt.«
    »Entschuldige. Es ist so ein hilfloses Gefühl, derart abgekapselt zu sein. Ich weiß ja, dass du es gut machst.«
    Eine Weile hörte er Tirzah geschäftig hantieren. Er hätte sie gern gefragt, wie sie zurechtkam, aber er traute sich nicht. Zum x-ten Male nahm er das Buch De morbis zur Hand, um nachzuschlagen, was bei einer schweren Lungenentzündung zu tun war. Wenn alles nichts mehr half, das wusste er, kam nur noch ein operativer Eingriff in Frage, um das Empyem zu leeren, den Eiterherd also, der sich seitlich unter den Rippen angesammelt hatte. Doch genau hier setzte die Schwierigkeit ein, bei der ihm auch der klügste medizinische Ratgeber nicht helfen konnte - es war dieselbe Problematik wie beim Schröpfen: Als Mann durfte er die schamhaften Körperteile eines Frauenkörpers nicht in Augenschein nehmen, geschweige denn sie operieren. Nur das war der Grund, warum er den Eingriff bisher abgelehnt hatte.
    Ratlos legte er das Buch wieder fort. Er hatte in den letzten Wochen manchmal vergessen, sein Abendgebet zu sprechen, doch heute, das nahm er sich vor, würde er den Allmächtigen anrufen und um die Gesundung seiner Patientin flehen. Oder um einen göttlichen Wink.
    »Ich muss handeln, muss etwas tun, muss den Tod abwenden, der schon voller Häme durch die Tür in diesen Wagen schaut. Herrgott im Himmel, hilf mir, schenke mir die Erkenntnis, die notwendig ist, um das Leben dieser Frau zu retten!«
    Vitus betete mit der ganzen Inbrunst, zu der er fähig war. Es musste doch einen Weg geben!
    Tirzah neben ihm schlief schon tief und traumlos. Sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, an dem sie keine Minute zur Ruhe gekommen war. Dennoch hatte sie ganze Arbeit geleistet, auch bei Senora Lopez. Die Schröpfkugeln, die sie aufgebracht hatte, davon war er überzeugt, hatten perfekt gesessen, doch bewirkt hatten auch sie nichts. Er starrte in das matte Licht der Kerze, die er gegen seine trüben Gedanken noch brennen ließ. Es war wie verhext. Tirzah und er fochten seit Tagen einen verzweifelten Kampf, aber der Welt um sie herum schien das völlig egal zu sein. Jedes Ding, jeder Gegenstand im Wagen,

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