Der Wanderchirurg
alles strahlte Gleichgültigkeit aus. Nichts schien unwichtiger als das Leben der Senora Lopez. Tote Materie um sie herum. Tot, so tot, wie bald auch die Kranke da drüben sein würde. Kleider, Gerätschaften, der Tisch ... Dinge auf dieser Seite der Wolldecke, die zusammengerückt worden waren zu drangvoller Enge, Ausdruck der Bemühungen, ein Leben zu retten. Seine Kiepe, der Stecken, Tirzahs Kräutersäckchen, die von der Decke herabhingen ... Erstaunlich, was alles hier noch Platz gefunden hatte.
Dazu die seltsame Puppe: Es war eine Holzpuppe, die naturgetreu einen nackten Fauenkörper darstellte, mit Gliedmaßen, die beweglich waren, einer Vulva, deren Labien farblich abgesetzt waren, vollen Brüsten, auf denen die einzelnen Schnitte für die Krebsamputation kenntlich gemacht worden waren. Mit aufgemalten Rippen, die sich auf dem Brustkorb abzeichneten.
Die Rippen dieser Puppe ...
Allmächtiger Vater im Himmel, ich danke dir! Die Puppe ist die Rettung!
»Tirzah! Pssst ... Tirzah!« Es dauerte eine Weile, bis Tirzah wach wurde. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, wie Vitus aufgeregt mit der Holzfigur hantierte:
»Sieh her, Tirzah! Das ist doch die Puppe, an der die Patientin dem Arzt zeigt, wo sie Beschwerden hat, richtig?«
»Richtig.« Tirzah gähnte. »Hast du mich deshalb etwa geweckt?«
»Um Gottes willen, nein, hör zu: Am Körper der Puppe werden wir die einzelnen Maßnahmen zur Rettung von Senora Lopez durchgehen. Ich zeige dir genau, wo der Giftbereich unter der Haut sitzt, und du wirst ihn mit dem Messer beseitigen. Schnitt für Schnitt, genau nach meinen Anweisungen, die ich dir von dieser Seite der Wolldecke gebe.« Langsam verstand Tirzah. »Du willst, dass ich an deiner Stelle operiere? Das kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du das. Du hast doch auch die Schröpfkugeln perfekt gesetzt. Hast dich sogar noch beschwert, dass ich dir dauernd Ratschläge gegeben habe.«
»Ich weiß nicht.«
»Komm, wir gehen jetzt die einzelnen Schritte durch.«
Vitus schlug sein Buch auf und begann vorzulesen: »Die Entleerung des Empyems erfolgt, indem der Cirurgicus zwischen der dritten und vierten echten Rippe, gezählt von unten nach oben, eine Öffnung herstellt.« Er nahm die Puppe und wies auf den entsprechenden Bereich. »Diese Öffnung muss in einem Abstand von sechs-bis siebenfacher Fingerbreite von der Wirbelsäule angebracht werden.« Er zeigte den Punkt für den Einschnitt. »Die Öffnung erfolgt mit dem Glüheisen oder mit dem Rasiermesser.«
Er blickte auf. »Du nimmst natürlich ein Skalpell - welches, zeige ich dir später. Weiter: Der Operateur soll schrittweise so schneiden, dass man die Spitze des Messers auf den unteren Teil der Rippe richtet, damit weder Adern noch Nerven abgeschnitten werden.« Sie nickte zaghaft.
»Es ist ganz leicht, du schaffst es bestimmt.« Wieder nahm er das Buch und ging erneut die Schritte sorgfältig mit ihr durch. Als er fertig war, tat er es nochmals. Und nochmals. So lange, bis er das Gefühl hatte, dass sie sich ihrer Sache sicher war.
»Gut«, sagte sie schließlich müde, »ich versuche es gleich morgen früh.«
»Nein!« Er blickte sie fest an. »Jetzt.«
Nachdem er die hintere Wagentür und die Fensterläden sperrangelweit aufgerissen hatte, trat Vitus aufatmend an das Krankenlager heran. Der Ekel erregende Geruch begann zu entweichen. Er rührte von den zahllosen rötlich gelben Eiterspritzern her, mit denen Wände und Boden bedeckt waren. Senora Lopez hatte die lebensgefährliche Operation überstanden.
Tirzah war dabei, die Spuren fortzuwischen. Ihre Bewegungen wirkten bleiern. Sie hatte nicht nur den ganzen gestrigen Tag gearbeitet, sondern auch die Nacht durchoperiert. Vitus nahm sie in den Arm. Sie begann zu weinen, vor Erschöpfung und vor Erleichterung.
»Du hast es großartig gemacht«, flüsterte er. »Ich konnte es zwar nicht sehen durch die verdammte Wolldecke, aber ich wusste, dass du es schaffen würdest.«
»Ich kann nicht mehr«, sagte sie tonlos, »bitte bring mich zu Bett.«
»Natürlich.« Er hob sie auf und trug sie die wenigen Schritte zum gemeinsamen Lager. »Ruh dich aus.« Er küsste sie und deckte sie zu, doch seine letzten Worte hörte sie schon nicht mehr. Sie schlief bereits.
Er ging zur anderen Seite hinüber, um Tirzahs Arbeit fortzusetzen. Während er die Spuren beseitigte, wanderten seine Gedanken zurück zur vergangenen Nacht. Tirzah hatte bei dem Eingriff sehr viel Mut bewiesen. Sie hatte, trotz
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