Der Wanderchirurg
dezimieren, dazu kam der gefürchtete Scharbock, welcher Schwäche, Blutgerinnsel und Zahnausfall verursachte. Matrosen, die an dieser Krankheit litten, waren nach kurzer Zeit nicht mehr zu gebrauchen. Andererseits: Je weniger Männer auf seinem Schiff fuhren, desto geringer die Entlohnung am Ende der Reise. Er rechnete die Zahl der Mannschaften, der Decksoffiziere und der Offiziere zum wiederholten Male zusammen, doch er kam nach wie vor nur auf knapp neunzig Köpfe, bitter wenig, wenn man bedachte, dass davon später auch noch die Wachen für die Sklaven gestellt werden mussten.
»Ich will diese Landratten sehen, die von Battista an Bord geholt worden sind«, befahl Najera. Er setzte sich, stand wieder auf, nahm abermals Platz und rief: »Jose!«
Die Tür flog auf. »Capitan?«
»Battista soll die Neuen von letzter Nacht vorführen, und zwar unverzüglich.« Najera, der mittlerweile wieder aufgestanden war, setzte sich erneut. Sein Blick ging verlangend zum Nussbaumschränkchen.
»Jawohl, Capitän! Sofort, Capitän!«
»Und bring mir eine Flasche Madeira mit.«
»Jawohl, Capitan!« Jose grüßte zackig, drehte sich auf dem Absatz und stürzte davon.
»Halt!« Najera griff in die Schublade des Kartentischs und holte eine kleine Sanduhr hervor. Er stellte sie auf den Kopf. Augenblicklich begannen die feinen Quarzstäubchen nach unten zu rieseln. »Mein Drei-Minuten-Glas, du weißt, was das bedeutet?«, fragte er lauernd.
Jose, der abrupt stehen geblieben war, schluckte.
»Jawohl, Capitän.« Najeras Drei-Minuten-Glas hatte bereits während der Werftliegezeit traurige Berühmtheit erlangt. Alles, auch das offenkundig Unmögliche, musste bei Näjera innerhalb dieser Zeit erledigt sein.
»Spätestens wenn der Sand durchgelaufen ist, stehen die Kerle angetreten auf dem Hauptdeck, sonst lasse ich dich kielholen.«
»Jawohl, Capitän!«
»Ein sehr schönes Stück, Capitän«, sagte Fernandez, als Jose verschwunden war und deutete auf die Sanduhr.
»Darf ich's mal näher anschauen?«
»Aber bitte, bedient Euch.« Najera fühlte sich geschmeichelt. Der Steuermann nahm das Glas und hielt es gegen das Licht. »Wirklich eine sehr schöne Arbeit, Capitän!«, rief er bewundernd. »Sieht aus, als wäre das Glas bei Orayä & Curo in Sevilla gefertigt, aber sicher bin ich nicht.«
»Tja, ich weiß nicht, ich ...«
»Erlaubt, dass ich nachsehe«, unterbrach Fernandez höflich und drehte das Glas, um die Unterseite zu begutachten. Der Sand rieselte zurück. Der Steuermann tat, als merke er es nicht.
»Nein, ich kann keinen Hinweis auf den Hersteller entdecken, Capitän.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern und stellte die Sanduhr wieder zurück. Najera sprang auf und lief puterrot an. »Das habt Ihr mit Absicht getan, Steuermann!«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint, Capitan.« Fernandez war die Ahnungslosigkeit selbst.
»Ich lasse mich von Euch nicht für dumm verkaufen!
Glaubt Ihr, ich hätte nicht bemerkt, dass Ihr das Glas unter einem Vorwand zurückgedreht habt? Ihr denkt, als Offizier wärt Ihr vor meiner strafenden Hand sicher, aber da irrt Ihr, ich ...« Abermals wurde er unterbrochen, diesmal von Jose, der in den Raum stürzte und Meldung machte.
»Capitan, melde gehorsamst: Battista hat die neuen Matrosen wie befohlen antreten lassen!« Er grüßte vorschriftsmäßig und übergab dann die gewünschte Flasche.
»Hier, Euer Wein, Capitan.« Der Anblick der Flasche besänftigte den Kommandanten fast augenblicklich. Er nahm sie und hielt seine Nase über den Korken, wobei er die Augen genießerisch schloss. Ein köstlicher, süßsäuerlicher Duft stieg ihm in die Nase. Das Verlangen auf ein großes Glas Madeira wurde unbezwingbar. Er gab die Flasche zurück.
»Öffne sie und schenke mir ein.«
»Jawohl, Capitan!« Jose beeilte sich, den Befehl auszuführen.
»Lass dir Zeit.« Najera setzte sich. Der Gedanke, dass die Matrosen draußen auf ihn warten mussten, hob seine Laune um ein Weiteres. Wahrscheinlich hatten die Burschen die Hosen gestrichen voll. Wenn nicht durch die Seekrankheit, dann aus Angst vor ihm, dem strengen Kommandanten. Seine Hand fuhr prüfend über die linke Seite seines Leibes. Alles in Ordnung, der Schmerz hatte sich zurückgezogen. Schwungvoll ergriff er das Kristallglas und leerte es mit einem Zug. Dann, abschließend, gürtete er sich mit seinem Zierdegen.
»Wohlan, ich komme!«
»Wind hat um drei Grad nach Süd gedreht, Capitan, ich habe Kurs beibehalten lassen«, meldete Don
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