Der Wanderchirurg
zieh! ... Und zieh!« Der Bootssteurer wollte ihm nicht nachstehen und feuerte die erschöpften Männer ebenfalls an. Nur noch wenige Bootslängen trennten sie von der Cargada de Esperanza, die wild an ihren Ankertauen zerrte.
Die Strömung, die, durch orkanartige westliche Böen verstärkt, das Boot immer wieder auf die Mole zugetrieben hatte, war in den letzten Minuten schwächer geworden. Zudem war es der Besatzung der Cargada gelungen, die Galeone so herumzunehmen, dass Battista mit seinem Boot aus Lee-Position heranrudern konnte.
Bei Gott, sie würden es schaffen! Battista, der nicht besonders religiös war, beschloss in der nächsten Kirche, die ihren Kurs kreuzte, eine Kerze anzuzünden. »Pullt, Jungs, pullt!«, schrie er abermals so laut, dass selbst die Matrosen auf der Cargada seine Stimme hörten.
Noch eine Bootslänge! Vor ihnen hob und senkte sich der gewaltige Schiffskörper der Galeone, während helfende Hände auf dem Hauptdeck ihnen eine Leine zuzuwerfen versuchten. Das Boot befand sich zeitweise auf einer Höhe mit dem riesigen Achterkastell, dem Kommandostand von Kapitän Miguel de Najera, und war Sekunden später wieder tief unterhalb der Geschützpforten, die bei diesem Wetter nicht nur fest geschlossen, sondern zusätzlich abgedichtet worden waren. Battista gelang es nach mehreren Versuchen, das Tau zu fangen und damit eine Klampe auf dem Dollbord zu belegen. Sein Blick fiel auf die fünf Gestalten, die gefesselt am Bootsboden lagen. Ein Knäuel von Leibern, mit Kleidern, denen die Nässe alle Farbe genommen hatte. Nur ein billiger, hellblauer Fetzen schimmerte da und dort durch. Fast beneidete er die Burschen, sie waren noch immer bewusstlos und bekamen von alledem hier nichts mit! Panchos Ohnmachtstrank hatte ganze Arbeit geleistet. Blieb nur zu hoffen, dass die Kerle jemals wieder aufwachten. Wenn nicht, dann ... doch daran wollte Battista, Erster Bootsmann und altbewährter Decksoffizier, lieber nicht denken.
Kapitän Najera saß festgeschnallt am Kartentisch in seiner Kajüte und blickte nicht ohne Stolz auf seine Rechte, die eine schlanke, grüne Flasche hielt. Sie enthielt Madeira-Wein, kostbaren, köstlichen Wein, von dem nichts, aber auch gar nichts vorbeigeschenkt werden durfte, selbst bei diesem Seegang nicht.
Er bedauerte, dass niemand ihm soeben zugesehen hatte, als er, hochkonzentriert, das kostbare Nass in das durch eine Halterung stabilisierte Kristallglas gefüllt hatte. Kein Tröpfchen war danebengegangen.
Abermals senkte er den rechten Arm, passte den speziellen Augenblick relativer Ruhe ab, in dem die Cargada de Esperanza, völlig durchgesackt war und sich anschickte, wieder auf einen Wellenberg zu klettern, und goss weiter ein. Auch diesmal: kein Tropfen vorbei!
Ärgerlich schaute er zur Tür der Kajüte. Niemand der Besatzung, nicht einmal sein persönlicher Diener Jose, hielt es bei diesem Wetter für nötig, ihm Gesellschaft zu leisten. Nichts war zu hören, außer dem heulenden Sturm, dem Ächzen der Takelage und dem Geblöke der Schafe, die auf Deck in ihren Käfigen eingepfercht waren. Lebendes Frischfleisch, das bis zu seinem Verzehr nichts weiter tat, als seinerseits zu fressen! Sein Blick wanderte weiter, blieb an der geräumigen, an Steuerbord befindlichen Kapitänskoje haften und dem in die Bordwand eingelassenen Kackstuhl mit dem dunkelgrünen Vorhang gegen neugierige Blicke. Der Raum unterhalb der Koje war gut genutzt; er diente als Schapp für allerlei Waffen. Allerdings waren die Klappen durch den Seegang aufgesprungen und einige Enterbeile herausgefallen. Sie lagen vor einer schweren, leider noch leeren Schatzkiste, die so massiv gebaut war, dass sie selbst bei diesem Wellengang nicht verrutschte.
Abermals wanderte sein Blick und erfasste den großen Esstisch, an dem er mit seinen Offizieren tafeln würde, bewegte sich weiter, hin zu der Wandvitrine aus Nussbaumholz, die einige weitere Kristallgläser barg, und zu dem Waschtisch mit der Schüssel und dem großen Wasserkrug darin. Beide Gegenstände wurden von ihm nicht benutzt, denn das Waschen des Körpers, das war bekannt, schwächte einen Mann nur. Schüssel und Krug waren aus blauweiß gemustertem chinesischem Porzellan und schimmerten fahl im flackernden Licht der großen Hecklaterne, das durch die Rückfenster der Galerie in die Kajüte fiel. Sein Reich!
Aber eines ohne Untertanen.
Wieder ärgerte er sich darüber, dass man ihn allein in seiner Kajüte sitzen ließ. Alle behaupteten, wegen
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