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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Wachdienst befreit und konnte, wenn nicht gerade eine Behandlung anstand, mit seiner Zeit tun und lassen, was er wollte.
    »Ich komme mit.« Vitus blickte in die Runde, »noch jemand, der uns begleitet?« Doch Klaas schüttelte den Kopf und Rod sang selbstvergessen weiter. Die Proteste der Kameraden prallten an ihm ab wie Kartätschenkugeln an einer Schiffswand.
    Vitus öffnete die schwere Eichentür an Steuerbord und trat mit dem Magister hinaus aufs Deck. Die Tür war nur eine von vieren am Fuß des vorderen Kastells: zwei führten nach achtern auf das Hauptdeck, zwei nach vorn auf den Galion, den Vorbau, der über den eigentlichen Bug des Schiffs hinausragte. Dort befand sich das, was die Matrosen jardin nannten, der »Garten«. Sie meinten damit Bänke, die längs der Reling angebracht waren und über kreisrunde Löcher verfügten. Wer durch sie nach unten blickte, sah nur die Bugwelle. Ein Matrose, der seinen Darm entleeren wollte, sagte gewöhnlich: »Ich geh mal eben in den Garten«, lief durch das Mannschaftslogis nach vorn und setzte sich über ein solches Loch. Bei einer Besatzungsstärke, die manchmal Hunderte von Männern betrug, ging es unter dem vorderen Kastell wie im Taubenschlag zu. Ein Grund mehr, warum dort die Mannschaften untergebracht waren - und nicht die Offiziere. »Der Wind bläst recht hübsch«, meinte der Magister und schaute wie ein alter Seebär zum Himmel. Ein blasser Mond tauchte das Deck in schwaches Licht. Die Takelage knarrte im Wind, und über ihnen spannte sich, einem riesigen Harnisch gleich, das Großsegel - prall, hart und silbrig glänzend. Es herrschte kein Betrieb an Deck, der stete Wind meinte es gnädig mit den Männern der Wache: Sie dösten zwischen aufgeschossenem Tauwerk, lehnten an Luken und Käfigen oder hatten sich zwischen aufgestapelten Segeln verkrochen. Nur die angespannten Gesichtszüge des Rudergängers schienen im Licht der Kompassbeleuchtung herüber, und an der Heckreling des Kommandodecks stand eine hohe Gestalt, die im Schein der Hecklaterne wie eine Silhouette wirkte: Don Alfonso.
    »Und es ist kalt«, antwortete Vitus, während er sich die Arme um die Schultern schlug, um warm zu werden. Sie gingen langsam auf das Beiboot zu, das mit seinen stattlichen Ausmaßen einen Großteil des Hauptdecks einnahm. In dem großen Boot befand sich noch ein weiteres, kleineres, das üblicherweise benutzt wurde, um Frischwasser und Proviant an Bord zu nehmen. Beide Boote waren mit schwerem, wasserdichtem Segeltuch gegen überkommende Seen abgedeckt. Im großen Beiboot war, wie Vitus von Rod wusste, eine Notration Hartbrot, Pökelfleisch und Bohnen untergebracht, dazu ein kleines Fässchen mit Wasser. »Komm, wir gehen auf die Leeseite, da ist es geschützter.« Sie umkurvten die Boote und stellten sich fröstelnd in den Windschatten. Die frische Luft war eine Wohltat nach dem muffigen Gestank aus Schweiß, Urin und Erbrochenem, der ständig wie eine Glocke über dem Mannschaftslogis hing.
    »Ich habe gehört, die Reise geht nach Guinea, um dort den Negerhäuptlingen ihre Untertanen abzuschwatzen?«
    Der kleine Gelehrte blies in seine Hände.
    »Stimmt, Fernandez erwähnte so etwas. Ich hatte übrigens nicht den Eindruck, als wäre er mit dem Zweck der Reise einverstanden.«
    »Nein, er ist Seemann und kein Sklavenhändler.« Der Magister schüttelte die Hände aus. »Ich habe ihn gefragt, wo wir auf der Fahrt nach Süden Zwischenstation machen, auf den Kanaren oder auf Madeira, aber er wusste es nicht. Ich denke, die Route hängt einzig und allein von diesem launischen Kapitän Najera ab, den du von seinen Blähungen befreit hast.«
    »Egal, wo wir Station machen«, Vitus senkte die Stimme, »wir sollten fliehen, sobald wir im nächsten Hafen sind.«
    »Vitus?« Die Stimme des Magisters klang ganz klein.
    »Ja?«
    Der kleine Gelehrte schwieg. »Was ist, Magister?«
    »Ich habe nichts gesagt.«
    »Du hast doch eben »Vitus« gesagt.«
    »Habe ich nicht.« »Vitus?«
    »Tatsächlich, du warst es nicht.« Diesmal hatte Vitus den Magister beobachtet. »Aber wer war es dann?«
    »Vitus?« Wieder erklang das Stimmchen, etwas lauter und mutiger jetzt. Eine Hand, klein wie die eines Kindes, erschien unter der Abdeckplane des großen Bootes und begann die Verzurrung zu lösen.
    »Ein blinder Passagier!«, rief der Magister, dessen Worte vor Aufregung lauter als beabsichtigt ausfielen.
    »Woher kennt er deinen Namen?«
    Rasch halfen sie der kleinen Hand beim Öffnen der Plane.

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