Der Wanderchirurg
Sprechverbot?«
»Du hältst dich ja sowieso nicht daran.« Vitus lächelte flüchtig: »Hier, schluck das erst einmal.«
»Was ist das?«
»Ein Beruhigungstrank, der gleichzeitig die Körpertemperatur reguliert. Bis er wirkt, kannst du mir erzählen, was dir im Einzelnen widerfahren ist.« Der Magister trank mit zusammengekniffenen Augen, bevor er antwortete: »Mein Glaube passt ihnen nicht.«
»Wenn das alles ist, dann haben sie nicht das Recht, dich so unmenschlich zu quälen!«
»Pah! Recht? Sie nennen Recht, was ihnen in den Kram passt!« Die Hand des Magisters fuhr an das Brandmal, doch zog er sie schnell wieder zurück, denn die Wunde pochte stark und war sehr empfindlich. »Die Folter ist völlig legitim, spätestens, seit Seine Heiligkeit Papst Innozenz IV. ihre Anwendung ausdrücklich erlaubte.«
Er spie das »Seine Heiligkeit« förmlich aus. »Das war anno 1252, dem wahrscheinlich schwärzesten Jahr, seit Unsere Liebe Frau dem Herrgott Seinen eingeborenen Sohn schenkte. Innozenz, dieser Teufel in Menschengestalt, hielt sich nicht nur Spitzel, die ihm verdächtige Menschen ans Messer lieferten, er ließ sogar die untersuchenden Richter in die Rolle des verständnisvollen Beichtvaters schlüpfen - alles nur, um den Ahnungslosen einen Strick daraus drehen zu können. Aber weißt du, Vitus, was das Schlimmste bei alledem ist?«
»Was denn?«
»Es ist heute noch genauso wie vor über dreihundert Jahren.«
»Ja, ich habe davon gehört.« Willkür und Gräueltaten der Kirche waren auch auf Campodios bekannt.
»Ich verstehe nur nicht, warum die Kirche so viele Opfer will. Und warum sie so versessen auf vermögende Sünder ist. Der Vatikan nagt doch nicht am Hungertuch!«
»Die Wahrheit ist«, antwortete der Magister, der sich langsam beruhigte, »dass es der Kirche ursprünglich nicht um irdische Güter ging, sondern um die Reinheit und die Verbreitung des allein selig machenden Glaubens. Das war auch der eigentliche Grund, warum die abendländischen Ritter anno 1096 ins Heilige Land aufbrachen, um Jerusalem zu befreien. Heute nennen wir dieses Unternehmen den 1. Kreuzzug ...« Der kleine Mann gähnte. »Erzähl mir den Rest später«, schlug Vitus vor.
»Vielleicht hast du Recht.« Ganz gegen seine sonstige Natur willigte der kleine Mann ein. Der Trank tat seine Wirkung. »Er wird jetzt ein paar Stunden schlafen«, sagte Vitus zu den anderen. Dann begann er mit seiner Arbeit. Er wechselte die Leinsamenpackung auf der Stirn gegen Scharpie aus, die er zwischen seinen Händen so flach ausgerollt hatte, dass sie sich der Länge und der Breite nach in die kreuzförmige Wunde legen ließ. Daraufhin griff er zu Nadel und Faden. Sorgfältig nähte er die Wundränder über der Scharpie zusammen. Auf Habakuks fragenden Blick hin erklärte er: »Scharpie regt den Eiterfluss an, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Eine Methode, die nicht unumstritten unter den Ärzten ist. Aber ich wende sie an, weil ich nichts unversucht lassen möchte.«
Am Nachmittag schlief der Magister noch immer. Vitus setzte einige Egel, um das Blut des Kranken zu reinigen. Am Abend begannen er und Habakuk, mehrere große Lauchstangen feinzuhacken und die Stückchen in ein Tuch einzuschlagen. Das so entstandene Paket drückten sie, sich ständig abwechselnd, gegen die Fußsohlen des Magisters, damit der austretende Saft in die Haut einziehen konnte.
»Wozu soll das nun wieder gut sein?«, fragte der Magister, als er wach wurde.
»Wir kämpfen gegen das Fieber in dir.«
»Scheint nicht ganz leicht zu sein«, murmelte der kleine Gelehrte. Zum ersten Mal klang seine Stimme etwas kleinlaut.
Nach einem weiteren Tag hatte sich der Zustand des Magisters deutlich verschlechtert. Das Fieber war trotz aller Bemühungen gestiegen, und der Kranke klagte häufig über Durst. Vitus versuchte, Ruhe zu bewahren.
»Was erwartet ihr eigentlich?«, fragte er in die Runde, »dass er nach drei Tagen wieder aufersteht wie unser Heiland? Er ist ein Mensch wie wir alle und braucht Zeit, um die Krankheit zu überwinden.«
Sie stimmten ihm zu, wenn auch nicht überzeugt. Vitus dachte nach und fragte, ob Solomon noch eine zweite Münze an dem bewussten Ort verborgen hielte.
Dem war so. Sie wurde auf die bekannte Art bereitgestellt, und Vitus konnte weitere Arzneien und eine matt schimmernde Perle besorgen lassen. Dann bat er Amandus, ihm den Datumstein aus der Mauer zu holen. Er nahm ihn und begann darauf die Perle zu zerreiben. Als dies getan war,
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