Der Wanderchirurg
und erfasste damit die Scharpiespitzen an den Endpunkten des Kreuzes. Langsam zog er die Stoffrollen unter den Nähten hervor. Der Gestank der Wunde verstärkte sich. Endlich war die Arbeit getan.
Sie wickelten den Magister in zwei Mäntel und warteten ab. Auf Vitus' energische Bitte hin reichte Nunu im Laufe des Vormittags ein Säckchen mit Rotem Sonnenhut hinein. Er nahm die Blätter, wässerte sie sorgfältig. Dann legte er sie auf den Knoten in der Achsel und auf die geschwollene Schläfe. Alle Stunde erneuerte er die Packung. Abermals blieb ihnen nichts als abzuwarten. Gegen Abend schien die Temperatur noch immer nicht nachzulassen. Allerdings war der Knoten in der Achsel etwas kleiner geworden. Auch die Schläfe schien nicht mehr so angeschwollen zu sein. Die Nacht über verhielt der Kranke sich ruhig. Vitus, Amandus, Felix und die Juden wachten abwechselnd an seinem Lager.
Sie beteten um sein Leben, jeder nach seinem Glauben. Am anderen Morgen war das Fieber immer noch erschreckend hoch. Allen war klar: Lange würde der kleine, zähe Mann es nicht mehr machen. Es musste zusätzlich etwas geschehen. Vitus straffte sich. Jetzt konnte nur noch eines helfen. Er rief laut nach Nunu. Der Hinkende erschien nach geraumer Weile. »Nu, nu, was is nu schon wieder?«
»Der Magister stirbt, du musst uns noch einmal helfen.«
»Ihr macht 'n Aufhebens um die halbe Portion, als wär's der König selbst.«
»Und wenn schon, für die zweite Silbermünze bist du uns noch was schuldig.«
»Werd nich frech, Ketzerdokter! Noch so'n Wort, un ich dreh dem Winkeladvokaten n Hals um. Dann is Ruhe!«
»Schon gut.« Für ein Streitgespräch war keine Zeit.
»Worum ich dich bitte, ist etwas, das dich nichts kostet. Ich brauche nur ein paar Weidenäste. Solche, wie sie überall wachsen. Du schneidest sie ab und gibst sie mir. Das ist schon alles.«
»Meinetwegen.« Nunu verzog sich und kam kurz darauf wieder. Er bündelte die Zweige und schob sie durch die Klappe in der Kerkertür, »'s is das Letzte, was ich tu, kapiert?«
Vitus schälte die Weiden ab, trocknete die Rindenstreifen über dem Feuer und pulverisierte sie, indem er sie über dem Datumstein abzog. Er war dankbar für die mühselige Arbeit, denn sie lenkte ihn ab. Als er auf diese Weise eine Hand voll Weidenrindenpulver gewonnen hatte, warf er alles in einen Topf mit kaltem Wasser. Langsam brachte er die Flüssigkeit zum Sieden und ließ sie geraume Zeit köcheln. Nachdem die Abkochung Trinktemperatur erreicht hatte, flößte er sie, sich mit Habakuk abwechselnd, vorsichtig dem Magister ein. Am Nachmittag schien die Temperatur etwas gefallen zu sein. Am späten Abend konnte kein Zweifel mehr bestehen: Das Fieber sank! Sie schöpften neuen Mut und verdoppelten ihre Anstrengungen. Gegen Mitternacht schlug der Magister die Augen auf. Sie schauten ihn an und jubelten im Stillen. Seine Pupillen waren klar.
»Ich werde gesund«, erklärte er.
»Aber nicht, wenn du gleich wieder Monologe hältst!«, sagte Vitus froh. »Muss ich aber.«
»Nein.«
»Bitte, glaub mir. Ich weiß, dass ich wieder gesund werde. Ich habe mit Conradus Magnus im Traum darüber gesprochen. Er ist tot, aber ich werde leben.«
»Du phantasierst schon wieder!«
»Nein, ich bin ganz klar. War nie klarer in meinem Leben.«
Vitus zögerte. Wenn er dem Magister jetzt das Sprechen verbot, würde er damit vielleicht mehr Schaden anrichten, als wenn er ihn reden ließe. »Also gut. Erzähle.«
»Bin schon dabei.« Der Magister blinzelte und drehte sich auf die Seite, um es bequemer zu haben. Eine Kakerlake huschte davon. Unbeirrt begann er: »Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns beim letzten Gespräch fast gestritten, als du die Kirche in Schutz nahmst. Ich muss dazu sagen, dass ich dir deshalb so vehement widersprochen habe, weil ich die ganze Zeit das Schicksal meines Freundes Conradus Magnus vor Augen hatte. Doch lass mich etwas weiter ausholen ...«
»Nicht, bevor du etwas Weidenrindensud genommen hast.«
»Tu ich ja.« Der Magister schlürfte geräuschvoll den Trank. »Herrgott im Himmel, ist das ein bitteres Gesöff!«
Dann begann er erneut: »Wie du weißt, komme ich aus La Coruna. Dort verbrachte ich die letzten vierzehn Jahre meines Lebens, die meiste Zeit davon als Magister, der die Jurisprudenz an einer Privatschule lehrte. Die Stadt ist im Großen und Ganzen ein angenehmer Ort, wenn man von den paar Prügeleien absieht, die von den Fischern und Seefahrern immer mal wieder
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