Der Wanderchirurg
Schultern: »Wie ihr seht, hab ich es nicht ganz geschafft. In der Verfolgung vermeintlicher Ketzer sind sie zäh. Auch wenn man nur ein armer Rechtsgelehrter ist wie ich.«
»Eine außergewöhnliche Geschichte«, meinte Vitus beeindruckt, »doch sie erklärt nicht, warum du vorhin so sicher warst, dass du leben würdest.«
»Stimmt«, gab der Magister zu, »aber als ich im Fieber phantasierte, hatte ich irgendwann ganz deutlich wieder die Szene vor Augen, in der Conradus mir den Rat gab, La Corufia so schnell wie möglich zu verlassen. Im Traum nun ging die Handlung weiter, so klar, als wäre sie wirklich geschehen: »Ramiro!«, rief Conradus, als ich mich umdrehte und davoneilen wollte, ich möchte dir noch etwas auf den Weg mitgeben, das ich als unbedingte Wahrheit erkannt habe: Man wird mich in wenigen Tagen als Hexer anklagen ... nein, unterbrich mich nicht!«, sagte er ungewöhnlich schroff, als ich das bezweifeln wollte,
»ich werde hier in La Corufia auf dem Scheiterhaufen sterben, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber ebenso sicher ist, dass du, Ramiro, leben wirst! Und noch etwas: Du wirst einen Freund finden, der dich genauso schätzt wie ich. Was immer auch passiert, er wird zu dir halten. Sorge dich also nicht um deine Zukunft, lebe!««
Der Magister blickte Vitus an.
Vitus nickte und drückte die Hand des kleinen Mannes.
»Da hat er wohl Recht gehabt. Und was ist aus ihm geworden?«
»Es ist alles genauso gekommen, wie er es vorhergesehen hatte. Ich erhielt vor einiger Zeit einen Kassiber, in dem man mir mitteilte, dass er tatsächlich verbrannt wurde. Ich hingegen lebe, auch wenn ich noch keine Bäume ausreißen kann.« Der Magister richtete sich halb auf. »Aber zur Abwechslung habe ich auch mal eine Frage.«
»Ja?«
»Was hat dich bewogen, zu jenem Zeitpunkt, als alles bei mir verloren schien, allein auf den Weidenrindensud zu setzen?«
Vitus lächelte. »Auch mir hat er einmal das Leben gerettet.«
Der Landsknecht Martinez
»Du schläfst mit offenen Augen, Kamerad, sonst wäre dir aufgefallen, dass dies meine Mahlzeit ist. Bestell dir selbst was.«
A m 15. Juni
desselben Jahres näherte sich ein Mann mit schweren Schritten auf der Calle San Antonio, die von Süden kommend direkt in den Ortskern von Dosvaldes führte. Es war später Vormittag, und die Sonne brannte seit über einer Stunde unbarmherzig aus einem wolkenlosen Himmel herab. Der Mann blieb stehen, um kurz zu verschnaufen. Er fühlte sich müde und zerschlagen. Die letzten einhundertfünfzig Meilen war er ausschließlich zu Fuß marschiert, denn das Pferd, das er besaß, hatte sich in der Nähe von Guadalajara ein Vorderbein gebrochen, und er hatte es töten müssen. Die letzte warme Mahlzeit hatte er vor drei Tagen in einem Kloster von gastfreundlichen Zisterziensermönchen bekommen. Seitdem knurrte ihm der Magen, was seine Stimmung nicht gerade hob. Die Straße war sehr staubig. Er hustete und spuckte in hohem Bogen aus. Einige hundert Schritt weiter am Wegrand erkannte er ein paar einfache Hütten - den Ortsrand von Dosvaldes.
»Möchte wissen, was mich in diesem Kaff erwartet!«, sagte er laut zu sich selbst und nahm sein Barett ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Kopfbedeckung war schön, aus grüner und roter Seide gefertigt, allerdings hatte sie schon bessere Tage gesehen. Ihr abgetragener Eindruck konnte auch durch die lange Reiherfeder, die unternehmungslustig an der Seite wippte, kaum wettgemacht werden.
»Wird Zeit, dass Juan Martinez mal wieder 'ne Taverne von innen sieht und was Richtiges zu fressen und zu saufen kriegt«, fuhr der Mann entschlossen fort. »Auch wenn's mit der Bezahlung hapert.«
Schwungvoll setzte er das Barett wieder auf und schritt erneut aus. Sein Gang war jetzt zielstrebiger, sein Gesichtsausdruck forscher. Martinez hatte einen schmalen, männlichen Mund und markante Züge. Er war fast vierzig Jahre alt, aber er wirkte jünger. Viele Frauen hätten ihn als gut aussehend bezeichnet, wenn sein rechtes Auge nicht gewesen wäre. Es war blind, ein Zustand, den man ihm überdeutlich ansah, denn es schimmerte weiß wie die Spitze eines gepellten Eis. Der Verlust des Augenlichts war bei Martinez nicht Folge eines Unfalls, sondern berufsbedingt: Er war Landsknecht, und ein überaus kampferprobter dazu. Doch nützte ihm das wenig, denn niemand brauchte in diesen Tagen eine Klinge, die für ihn focht. Unwillkürlich tastete er nach seinem alten Degen. Die Waffe
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