Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
selbst, weil ich ihn so unter Druck setzte. » Du solltest wissen, wie sehr das wehtut.«
» Das weiß ich.« Er griff nach mir, und ich stieß seine Hand weg.
» Dann hör auf damit. Beschränk dich wieder darauf, mein Bodyguard zu sein. Oder noch besser, besorg mir einen neuen. Ich bin fertig mit dir.« Ich sprang aus dem Auto und schlug die Tür so kräftig zu, dass der Rückstoß mir durch die Schulter fuhr. Ohne einen Blick zurück stapfte ich in die Küche. Noch nie zuvor hatte ich mich so auf die Monotonie des Kaffeenachschenkens und des Kürbiskuchens à la mode gefreut.
Colin folgte mir nicht hinein, und ich redete mir ein, dass ich froh darüber wäre.
Als ich mir Schürze und Kopftuch umband, musterte ich über die Küchentheke hinweg die heutigen Gäste. Meine Mutter blieb stehen, um mit einem der Stammkunden zu plaudern, Brent, der ein paar Blocks entfernt ein Versicherungsbüro leitete.
» Toller Kuchen heute, Annie«, sagte er. » Es haben schon Männer für weniger als das einen Heiratsantrag gemacht.«
Sie schenkte ihm rasch ein beiläufiges Lächeln, während sie seine Tasse neu füllte. » Ach, ich weiß nicht.«
» Ich schon. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du alles so glatt am Laufen hältst. Du musst das Kochen doch langsam leid sein. Wann hat dich das letzte Mal jemand zum Abendessen ausgeführt?«
Er baggerte meine Mutter an. Ein normaler, anständiger, nicht krimineller Mann flirtete mit meiner Mutter. Ich wusste nicht, ob ich lachen, mich gekränkt fühlen oder applaudieren sollte. Wie wäre unser Leben wohl verlaufen, wenn sie vor all den Jahren meinen Vater verlassen und jemand anderen gefunden hätte? Sie hatte es nie auch nur in Erwägung gezogen, da war ich mir sicher. Sie war meinem Vater zu treu und nahm ihr Ehegelöbnis zu ernst. Sie würde wahrscheinlich nicht einmal begreifen, dass Brent sie dazu einlud, mit ihm auszugehen.
» Ich verbringe den ganzen Tag in einem Restaurant. Eigentlich gehe ich nicht besonders gern aus.« Sie spielte mit ihrem Ehering und flitzte davon, um sich um einen anderen Gast zu kümmern. Brent machte ein langes Gesicht, aber ich war die Einzige, die es bemerkte.
Ich war überrascht, wie aalglatt meine Mutter ihn zurückgewiesen hatte, so als wäre sie in Übung. Wie oft war das im Laufe der Jahre schon geschehen? Wie oft hatte ich es übersehen? Es war, als würde ich durch den Sucher meiner Kamera blicken und feststellen, dass die Brennweite ganz falsch eingestellt war. Das Gefühl behagte mir nicht.
» Süße!« Meine Mutter lächelte, als ich durch die Schwingtür ins Restaurant kam. Ich schnappte mir einen Bestellblock von der Theke. Brent war gegangen. » Wie war dein Tag?«
» Gut«, sagte ich und versuchte erfolglos, eine entschlüpfte Locke wieder unter mein Kopftuch zu schieben. Unser Verhältnis zueinander war nie so gut gewesen, dass ich mit ihr über Jungen geredet hätte. Angesichts des fraglichen » Jungen« hatte ich auch vor, es dabei zu belassen.
Sie musterte mich prüfend. » Du bist unglücklich.«
» Nur müde«, sagte ich und erinnerte mich an Billys Worte vom Vorabend, dass ich ihr den Tag verdorben hätte.
» Setz dich für ein paar Minuten hin.« Sie wies auf einen leeren Stuhl an der Theke, und ich gehorchte und sah zu, wie sie mir eine Tasse Tee machte. Während ich die Hände an der weißen Keramik wärmte, legte sie einen Brownie von einem der Dessertständer auf einen Teller und schob ihn über die Theke. » Mit dem Gesicht kannst du keine Gäste bedienen.«
Ich blinzelte sie an. Entweder hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen gestern Abend, oder ich sah noch elender aus, als ich mich fühlte.
» Ich bin auf dem Sprung, um die Lieferungen wegzubringen, es sei denn … du brauchst mich hier?« Es lag ein hoffnungsvoller Unterton in ihrer Stimme, und ich lächelte schwach.
» Es geht schon«, sagte ich. » Der Tee hat geholfen.«
» Vielleicht brauchst du eine Pause.« Sie beugte sich vor und zog mein Kopftuch zurecht. » Ich denke schon seit einer Weile, dass wir verreisen sollten.«
» Verreisen«, wiederholte ich. Ihr bewusst fröhlicher Tonfall ließ innerlich alle Alarmglocken bei mir schrillen.
» Du und ich. Die Fitzgerald-Mädels, um eine Weile von allem wegzukommen. Nicht lange, nur übers Wochenende, damit du nicht in der Schule fehlst.«
Wir hatten kein Geld für einen Spontanurlaub. Und wohin sollten wir schon fahren? Ich war ein bisschen zu alt für Disneyland, und meine Mutter war
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