Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
so gut wie unmöglich gewesen, den Blick von ihm abzuwenden. Irgendetwas an ihm übte geradezu einen Zwang auf mich aus. Er brachte mich dazu, Dinge infrage zu stellen, Dinge zu wollen, mehr zu wollen – von mir selbst und von der Welt –, und er ließ mich glauben, dass ich es verdient hatte.
» Komm mit mir.« Es war eine Bitte, kein Befehl. » Nicht nach Hause. Ich will dich nicht ins Dazwischen bringen, wenn wir es vermeiden können. Aber irgendwohin. Zu dir?«
Der Gedanke, mit ihm allein zu sein, ohne dass die Möglichkeit bestand, dass meine Mutter nach Hause kommen würde, elektrisierte mich. Jeder Nerv in meinem Körper streckte sich Luc entgegen. » Ich möchte gern …«
» Gut.« Er küsste die Stelle, wo mein Kiefer an mein Ohr grenzte.
» … aber ich kann nicht weg.« Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Enttäuschung mich so heftig durchzucken würde.
Sein Daumen streifte meine Kniekehle, und mir fielen die Augen zu. » Warum nicht? Hier gibt es nichts, was es wert wäre zu bleiben.«
Ich brachte mich außer Reichweite, da ich befürchtete, dass nicht viel nötig sein würde, um mich umzustimmen. » Ich habe mich für nach dem Ball mit Lena verabredet. Ich habe es ihr versprochen.«
» Du und deine Versprechen«, grummelte er. » Wie furchtbar praktisch.«
» Was soll das denn heißen?«
» Ich habe noch nie jemanden getroffen, der einem solche Ausreden auftischt wie du. Es gibt immer einen Grund dafür, dass du nicht aufs Ganze gehen kannst. Immer einen, der logisch und nachvollziehbar klingt, aber darunter verbirgt sich nur, dass du Angst hast. Du konntest dich nicht mit Pascal treffen, weil du zu diesem Ball musstest, du kannst nicht mit mir kommen, weil eine Freundin bei dir übernachtet. Du lügst nicht gerade, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit.«
» Vielleicht bist du nur eifersüchtig, weil du keine Einladung bekommen hast«, sagte ich in dem Versuch, die angespannte Situation zu entschärfen. Irgendetwas in mir geriet bei seinen Worten in Wallung, und ich berührte entschuldigend seinen Arm. » Ich wusste nicht, dass du hier sein würdest, Luc. Zwing mich nicht, eine Wahl zu treffen.«
» Nicht heute Abend.« Er runzelte die Stirn. » Aber früher oder später werden dir die Ausreden ausgehen. Du wirst dich entscheiden müssen, sonst bleibt dir am Ende gar nichts. Ich wünschte, ich könnte dich dazu bringen, das zu verstehen.«
» Ich verstehe es«, sagte ich und ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen. Er sprach von mehr als von unserer Beziehung, und ich wollte ihm die Wahrheit schenken, die er verdient hatte. » Ich denke darüber nach, in Ordnung? Mehr kann ich nicht tun.«
» Ich weiß.« Er beugte sich über mich, küsste mich und ließ seinen Mund wie ein Echo auf meinem verweilen. » Ich vermisse es jetzt schon«, sagte er und verschwand.
Kapitel 28
» Ich verstehe dich einfach nicht«, sagte Lena, als wir zum Auto gingen.
» Willkommen im Club.«
» Ernsthaft. Du bist verrückt nach Colin, das sieht doch jeder. Er kommt ins Zimmer, und du strahlst. Einen Streit später steckst du dem geheimnisvollen Jungen die Zunge in den Hals. Dafür habe ich durchaus Verständnis, denn er ist ja schließlich heiß wie ein Atomreaktor, aber wirklich – was ist da los?«
Ich sagte nichts, bis wir vom Parkplatz fuhren. » Ich wünschte, ich wüsste es.«
» Du hast gesagt, er sei Veritys Freund gewesen.«
» Da habe ich wohl etwas übereilte Schlüsse gezogen.«
» Eilig hattest du es auf alle Fälle«, sagte sie. » Was ist nun mit dir und Colin?«
Ich sah mich nach dem Truck um, der uns folgte. » Es ist nichts zwischen Colin und mir. Das hat er überreichlich klargestellt.«
» Oh. Darum ging es also bei dem Streit vorhin?«
» Ja.«
Sie spielte am Radio herum und stellte einen neuen Sender ein. » Hat der geheimnisvolle Junge einen Namen?«
Ich zögerte. » Luc.«
» Ist es ernst zwischen euch beiden?«
Ich berührte mein Handgelenk. » Schwer zu sagen. Wir denken noch darüber nach.«
Lena schürzte die Lippen. » Er kam mir so vor, als ob er es durchaus ernst meint.«
» Ja. Es ist …«
» Kompliziert«, vollendete sie. » Das ist bei dir in letzter Zeit doch alles.«
Der Rest des Abends war ein verschwommenes Gemisch aus Popcorn, Schokoladenkeksen, kitschigen Liebeskomödien und Schulklatsch. Es war genau das, was ich brauchte, und ich zwang mich, nicht an Colins Akte zu denken – oder an Lucs lächerlichen Vorwurf, dass ich Angst vor unserer
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