Der Weg nach Kaarborg: Ragnor Band 2 (German Edition)
einem Blick auf die Tote an der Wand fügte er hinzu: "Nehmt die Tote bitte ab und hüllt sie in eine Decke. Wir wollen ihr wenigstens ein ordentliches Begräbnis zukommen lassen, wenn wir sonst schon nichts mehr für sie tun können."
Der Milizionär nickte zustimmend, übergab ihm vorsichtig die Decke mit dem Mädchen und machte sich mit einem seiner Kollegen daran, der Frau die Ketten abzunehmen, während der dritte Soldat loslief, um eine weitere Decke zu holen. Ragnor wartete nicht ab, bis sie ihre Arbeit beendet hatten, sondern ging mit dem Mädchen auf den Armen durch den Felsengang zurück. Sie war leicht wie eine Feder, sodass er einige Male schon befürchtete, er hätte sie verloren oder trüge nur eine leere Decke mit sich herum. Dies veranlasste ihn, immer wieder in ihr blasses Gesicht zu schauen, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Als er abermals die Folterkammer passierte, bewegte sich das Kind plötzlich, stieß einen angstvollen Schrei aus und versuchte sich zu wehren. Ragnor zog sie fest an sich, damit sie sich nicht versehentlich verletzte und sagte, um sie zu beruhigen, mit freundlicher Stimme: "Du musst keine Angst haben. Es ist alles wieder gut. Wir haben dich befreit. Niemand wird dich je wieder schlagen."Er wiederholte diese Worte so lange immer wieder mit ruhiger Stimme, bis das Kind seine Versuche, sich zu wehren, aufgab. Es beruhigte sich zusehends, ihr magerer Körper hörte auf zu zittern, bis nur noch ihr leises Weinen zu hören war. Nun wagte er es, ihren Kopf von seiner Schulter zu nehmen, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Aus dem mageren Gesichtchen mit den verklebten braunen Haaren sahen ihn zwei ängstliche, blaue Augen fragend an."Mein Name ist Ragnor, und ich bringe dich jetzt nach oben, damit du versorgt wirst. Wir haben die Burg erobert, und niemand wird dir jemals wieder so etwas antun. Das verspreche ich dir!Das Mädchen antwortete zwar nicht, schien sich aber weiter zu beruhigen, zeigte sogar ein schwaches Lächeln, bevor es wieder erschöpft die Augen schloss. Ragnor war damit aber vorerst zufrieden, nahm sie wieder hoch und legte ihren Kopf vorsichtig auf seine Schulter, um seinen Aufstieg ins erste Obergeschoss, in dem sich der Eingang zum Palais befand, fortzusetzen.
Dort traf er auf zwei Milizionäre und fragte diese voller Ungeduld: "Habt Ihr schon gehört, ob unsere gefangenen Reisegefährten gefunden worden sind?""Leider nicht, junger Herr. Aber sollen wir Euch das Mädchen abnehmen?", fragte der Größere der beiden."Nein, danke, ich mache das schon selbst. Zeigt mir bitte nur den Weg zu Eurem Feldscher", antwortete Ragnor, der das Mädchen momentan nicht Dritten übergeben wollte, ohne ihr vorher sanft erklären zu können, warum es notwendig war. Er befürchtete nämlich, sie könnte sonst in ihre Angstzustände zurückfallen, weil sie wieder Schlimmes vermuten würde."Wir haben unser Feldlazarett im Rittersaal im zweiten Stock aufgeschlagen. Geht dort die Treppe hoch, dann kommt Ihr direkt dorthin", gab ihm der Milizionär die gewünschte Auskunft.
Als er den Rittersaal betrat, traf er dort auf den Feldscher, seine Gehilfen und vier Milizionäre, die neben den eigenen Verwundeten, vor allem einige ihrer verletzten Gegner, bewachten, die ebenfalls hier versorgt wurden.
"Wen habt Ihr denn da?", fragte der Feldscher, ein sanftmütiger kleiner Mann, dessen blutige Hände von den Härten seines Berufsstandes zeugten."Es ist ein misshandeltes Mädchen. Ich brauche eine Pritsche und vielleicht etwas zu essen für sie. Sie wurde zwar schwer geschlagen, aber ich glaube nicht, dass sie schwere Verletzungen hat, die sofort behandelt werden müssen", antwortete Ragnor und setzte leise hinzu: "Die größten Wunden liegen wohl auf der Seele dieses Kindes, das seine misshandelte Mutter hat sterben sehen."
Der grauhaarige Feldscher nickte sichtlich betroffen und ging dann schweren Schrittes zu seinem nächsten Fall, einem Milizionär mit einer Hiebwunde im Oberschenkel, und wies dabei einen seiner Helfer an, für das Mädchen sofort eine Pritsche zur Verfügung zu stellen. Ragnor sah dem kleinen, gebeugten Mann hinterher und konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, dass ihm das Schicksal des Kindes immer noch so nahe ging, trotz der schrecklichen Dinge, die er im Laufe seines Berufslebens wahrscheinlich schon gesehen hatte.
Die Pritsche und eine weitere Decke wurden gebracht, und Ragnor legte das Mädchen vorsichtig auf die Liege, um sie umgehend
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