Der Weg Nach Tanelorn
könnte, würde man annehmen, die Flucht wäre ihr geglückt. Gab man dann die Verfolgung auf, würde es nicht mehr so schwer sein, sich unbemerkt zu entfernen.
Sie sah ein unbeleuchtetes Haus ganz in der Nähe.
Sie sprang auf das andere Dach, kletterte über den Dachrand und von dort auf ein Fenstersims. Mit dem Jagdmesser öffnete sie die Fensterläden, kletterte ins Innere und zog die Läden hinter sich wieder zu.
Sie war müde. Der Kettenpanzer war schwer und drückte sie schier nieder. Sie wollte, sie hätte Zeit, ihn auszuziehen. Ohne ihn konnte sie höher springen und schneller klettern. Aber es war wohl zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.
Das Zimmer, in dem sie nun stand, roch muffig, als wären die Fenster seit langem nicht mehr geöffnet worden. Als sie es durchqueren wollte, stieß sie ihr Knie gegen etwas Hartes. Eine Truhe? Ein Bett?
Und nun hörte sie ein würgendes Stöhnen.
Ilian spähte durch die Düsternis.
Jemand lag auf einem Bett eine Frau! Und sie war geknebelt und gefesselt!
War sie eine Garathormerin, die von einem der Invasoren gefangen gehalten wurde? Ilian beugte sich über sie, um das Tuch, das als Knebel diente und straff um den Mund gespannt war, zu lösen.
»Wer seid Ihr?« flüsterte sie. »Habt keine Angst vor mir. Ich rette Euch, wenn es möglich ist, obgleich ich mich selbst in größter Gefahr befinde.«
Ilian holte erschrocken Luft, als das Tuch ab war.
Sie erkannte das Gesicht.
Es war das Gesicht eines Geistes!
Grauen schüttelte sie. Ein Grauen, das sie sich nicht erklären konnte. Ein Grauen, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Denn obgleich sie das Gesicht kannte, wusste sie nicht, wem es gehörte.
Und genauso wenig konnte sie sich erinnern, wo sie es je zuvor gesehen hatte.
Sie kämpfte gegen den Impuls an, die gefesselte Frau ihrem Schicksal zu überlassen und einfach davonzulaufen.
»Wer seid Ihr?« fragte die Fremde.
6. Der falsche Held
Ilian gewann ihre Selbstbeherrschung zurück. Sie fand eine Lampe, Feuerstein und Zunder und zündete die Lampe an, während sie tief atmete und zu begreifen versuchte, was in ihr vorgegangen war. Der Schock, als sie die Gefangene erkannt hatte, war groß gewesen – und doch könnte sie schwören, dass sie diese Frau noch nie gesehen hatte.
Ilian drehte sich wieder zu ihr um. Die Fremde trug ein schmutziges, einst weißes Gewand. Ganz offensichtlich hielt man sie schon seit längerer Zeit hier gefangen. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Ihre Hände waren in einem komplizierten Lederharnisch auf die Brust gefesselt, der auch ihre Beine und den Hals band.
Ilian fragte sich, ob sie vielleicht eine Irre war, die man in diesen Zwangsharnisch hatte stecken müssen. Vielleicht war es sehr unüberlegt von ihr gewesen, sie einfach von dem Knebel zu befreien. Die Frau hatte einen wahrhaft wilden Ausdruck an sich, aber das konnte natürlich auch daran liegen, dass sie so lange schon gefangen gehalten wurde.
»Seid Ihr von Garathorm?« fragte Ilian sie. Sie hob die Lampe, um sich das bleiche Gesicht der Fremden näher anzusehen.
»Garathorm? Dieser Ort hier? Nein!«
»Ihr kommt mir bekannt vor.«
»Ihr mir ebenfalls. Aber …«
»Ja«, sagte Ilian tief seufzend. »Es geht Euch also wie mir. Ihr habt mich nie zuvor gesehen.«
»Doch, ich glaube schon.« Die Frau sah sie überlegend an, doch dann sagte sie: »Ich heiße Yisselda von Brass. Ich bin Baron Kalans Gefangene, und war es auch schon, ehe wir hierherkamen.«
»Weshalb hält er Euch denn gefangen?«
»Er fürchtet, ich könnte entkommen und gesehen werden. Er will mich für sich selbst. Offenbar sieht er eine Art Talisman in mir. Er hat mir körperlich kein großes Leid zugefügt. Glaubt Ihr, Ihr könntet diesen Harnisch aufschneiden?«
Durch die vernünftig klingende Stimme beruhigt, beugte Ilian sich über Yisselda von Brass und durchtrennte die Lederriemen. Yisselda stöhnte, als sie ihre Glieder wieder zu spüren begann. »Oh, ich danke Euch!«
»Ich bin Ilian von Garathorm. Königin Ilian.«
»König Pyrans Tochter!« Yisselda war sichtlich überrascht. »Aber Kalan hat Euch doch die Seele herausgezogen, oder nicht?«
»So sagte man es mir. Aber ich habe jetzt eine neue Seele.«
»Wirklich?«
Ilian lächelte. »Verlangt nicht, dass ich es Euch erkläre. Also sind nicht alle, die so plötzlich auf unsere Welt kamen, schlecht.«
»Die meisten von ihnen sind es. Fast alle dienen dem Chaos, erzählte mir Kalan, und sie bilden sich ein, dass sie
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