Der Weg Nach Tanelorn
Schloss. Er bewegte sie ein paar Sekunden versuchsweise, dann drehte er sie scharf. Ein Klicken war zu hören, und die Tür schwang auf.
Die beiden Gefährten traten in den dahinter liegenden Raum. Beide hielten unwillkürlich bei dem sich ihnen bietenden Anblick den Atem an.
2. Ein Museum der Lebenden und Toten
»König Huon!« flüsterte Falkenmond. Schnell schloss er die Tür hinter ihnen und blickte zu der großen Kugel auf, die hoch von der Decke hing. In ihr schwamm die runzlige Gestalt des uralten Königs, der einst mit der klangvollen Stimme eines jungen Mannes gesprochen hatte.
»Ich dachte, Meliadus habe Euch ermordet!«
Ein kaum hörbares Wispern drang aus der Kugel. »Meliadus«, klang es wie ein schwaches Seufzen. »Meliadus.«
»Der König träumt«, sagte die Stimme Flanas, der Königin von Granbretanien.
Und nun sahen sie auch sie in ihrer Reihermaske aus Goldfiligran mit den Reiheraugen aus facettierten Splittern von tausend seltenen Edelsteinen. Sie trug ein wallendes Brokatgewand und kam langsam auf sie zu.
»Flana?«
Falkenmond schritt ihr entgegen. »Wie kommt Ihr hierher?«
»Ich bin in Londra geboren. Wer seid Ihr? Doch auch wenn Ihr vom Orden des Königs seid, dulde ich nicht, dass Ihr so vertraulich zu Flana, der Gräfin von Kanbery, sprecht.«
»Jetzt Königin Flana«, berichtigte Falkenmond.
»Königin – Königin – Königin …« wisperte die ferne Stimme König Huons hinter und über ihnen.
»König …« Eine weitere Gestalt schritt, ohne sie zu beachten, an ihnen vorbei. »König Meliadus …«
Da wusste Falkenmond, dass er das Gesicht Baron Meliadus’, seines Erzfeinds, sehen würde, wenn er dieser Gestalt den Helm vom Kopf risse. Aber er wusste auch, dass seine Augen so stumpf sein würden, wie zweifellos auch die von Flana waren. Er sah sich um. Noch viele andere befanden sich in diesem Raum – alles Edle des Dunklen Imperiums: Flanas früherer Gatte, Asrovak Mikosevaar; Shenegar Trott in seiner Silbermaske; Pra Flenn, Herzog von Lakasdeh im grinsenden Drachenhelm, der noch vor seinem neunzehnten Geburtstag gestorben war und mit eigener Hand über hundert Männer und Frauen getötet hatte, ehe er achtzehn wurde. Doch obgleich das hier eine Zusammenkunft der grausamsten und unerbittlichsten Kriegsherren Granbretaniens zu sein schien, achtete keiner auf sie. Sie hatten kaum Leben in sich. Nur Flana – die in Falkenmonds Welt noch zu den Lebenden zählte – war offenbar in der Lage, einigermaßen vernünftig zu sprechen. Der Rest war wie Schlafwandler, die ein oder zwei Worte murmelten, aber nicht mehr. Falkenmonds und Graf Brass’ Eindringen in dieses makabre Museum der Lebenden und Toten hatte sie aufgescheucht wie Vögel in einer Voliere.
Es war kein schönes Gefühl, besonders für Falkenmond, der viele dieser Männer eigenhändig getötet hatte, diese Schlafwandler hier zu sehen. Er griff nach Flanas Arm und nahm gleichzeitig seine Maske ab, damit sie sein Gesicht sehen konnte.
»Flana! Erkennt Ihr mich denn nicht? Ich bin Falkenmond! Wie seid Ihr hierhergekommen?«
»Nehmt sofort Eure Hände von mir, Krieger!« sagte sie automatisch, obwohl es ihr ganz offensichtlich völlig gleichgültig war. Flana hatte nie viel vom Protokoll gehalten. »Ich kenne Euch nicht. Setzt Eure Maske wieder auf.«
»Dann müsst Ihr aus einer Zeit vor unserer ersten Begegnung gezogen worden sein – oder aus einer völlig anderen Welt«, überlegte Falkenmond laut.
»Meliadus … Meliadus …« wisperte König Huon in der Thronkugel über ihren Köpfen.
»König … König …«, murmelte Meliadus in der Wolfsmaske.
Und »Runenstab«, murmelte der fette Shenegar Trott, der beim Versuch, sich diesen mystischen Stab anzueignen, gestorben war. »Runenstab …«
Das war offenbar alles, wovon sie sprechen konnten: von ihren Ängsten oder Ambitionen, jenen Ängsten und Ambitionen, die ihr Leben beherrscht und sie in ihr Verderben geführt hatten.
»Ihr habt recht«, wandte Falkenmond sich an Graf Brass. »Das hier ist die Welt der Toten. Aber wer hält diese bedauernswerten Kreaturen hier fest? Aus welchem Grund wurden sie wiedererweckt? Es ist wie eine makabre Schatzhöhle – mit menschlichem Plündergut aus der Zeit, alles hier zusammengehamstert.«
Graf Brass schüttelte sich. »Ich frage mich, ob ich vielleicht bis vor kurzem noch Teil dieser Sammlung war. Wäre das möglich, Herzog Dorian?«
»Das hier sind alle Edle des Dunklen Imperiums. Nein, ich glaube, Ihr
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