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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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aufgespießt
auf ihrer Gabel, in der Luft stecken, »tatsächlich diese Coleridge-Geschichte?«
    »Ich verstehe nicht ganz...«
    »Die schöne Episode mit dem
Traum und dem Opium.«
    »Sie überraschen mich. Ich
dachte, Dichter interessierten Sie nicht.«
    »Ich sagte nur, ich traue ihnen
nicht. Darum geht es ja.«
    »Haben Sie Kubla Khan gelesen? Gefällt es Ihnen nicht?«
    »Denken Sie eigentlich nur in
solchen Kategorien? Es gefällt mir, es gefällt mir nicht, es schmeckt mir, es
schmeckt mir nicht, die ganze Welt ist ein ästhetisches Angebot, und Sie
verteilen die Hauben.«
    »Woher wissen Sie das? Ich bin
ja nur ein kleiner Regionaltester, und meistens sehr zurückhaltend.«
    »Darum geht es doch nicht.«
    Anna zog sich ihre Socken
zurecht, goß mir vom Smaragd nach, kauerte sich noch tiefer in ihre Couch,
lachte auf, nahm sich selber einen Schluck aus der Flasche und schaute mich an.
    »Wir müssen nicht so ernst
sein, wenn Sie nicht wollen.«
    »Doch, ich will«, sagte ich
schnell, die bösartigen Elfen von der schwerbeschäftigten Abteilung »Bestrafung
unbedachter Äußerungen« schwirrten sogleich um mich herum und plärrten mir eine
Hochzeitsmarsch-Parodie ins Ohr, »wissen«, ergänzte ich, »worauf Sie
hinauswollen.«
    »Coleridge«, sagte Anna. »Ist
es Ihnen egal, ob er lügt, solange das Gedicht schön genug ist?«
    »Sie meinen, er lügt in Kubla
Khan ?«
    »Ich meine natürlich diese
ganze Entstehungsgeschichte. Ein Mann nimmt Opium gegen seine Gicht, liest ein
Reisebuch, schläft ein und träumt ein Gedicht. Nicht etwa nur die
Bilder, nein, den vollständigen Text, Zeile für Zeile, drei lange Strophen.
Dann wacht er auf, und das komplette Gedicht ist immer noch in seinem Kopf, er
braucht es nur noch abzuschreiben. Können Sie sich wirklich vorstellen, daß das
die Wahrheit ist?«
    »Kommt darauf an«, sagte ich,
erstaunt über ihr Detailwissen, »was Sie unter Wahrheit verstehen. Und wie
streng Sie sind, was kleine Hinzufügungen oder Übertreibungen betrifft.«
    »Ich möchte nur wissen, was in
jener Nacht wirklich geschehen ist. Der Mann hat doch bis dahin nur Dutzendware
fabriziert, und dann so eine Vision. Und dann noch eine und noch eine, genau
ein Jahr lang, und danach wieder: Durchschnitt. Können Sie mir das erklären,
aber bitte ohne Opium-Legenden?«
    »Darüber«, sagte ich ein wenig
altklug, »streiten sich die Fachleute schon lange. Aber können Sie mir erklären, warum Sie daran so interessiert sind?«
    »Ich habe meine Gründe«, sagte
sie.
    Unter Komplimenten aß ich ihren
Fisch und ihre Erdäpfel, natürlich auch den Gurkensalat, trank in erwachsenen
Schlucken, sie mußte schon während des Essens eine zweite Flasche öffnen.
    Als Dessert gab es
Zitronensorbet, und ich schwöre, ich werde künftig keine Zitrusfrucht mehr
sehen oder riechen können, ohne Anna im Geiste meine Reverenz zu erweisen.
Selbst das Geräusch beim Öffnen einer Dose Sprite oder Seven-Up wird meine
Erinnerung unweigerlich an diesen Abend zurückführen.
    »Drei Hauben«, sagte ich bei
der Zigarette danach, ich konnte es nicht lassen, »hiermit verleihe ich Ihnen, leider
inoffiziell, drei Hauben.«
    »Wieso nicht vier?« fragte Anna
und ließ die Asche ihrer Camel in Moby Dicks Maul fallen.
    »Kontinuität«, sagte ich. »Vier
gibt’s nur bei Nachweis einer über Jahre hinweg aufrechterhaltenen
Spitzenqualität. Aber in Ihrem Fall könnten wir eine kleine Ausnahme machen und
vielleicht schon nach zwei, drei weiteren Prüfungen an eine vierte Haube
denken.«
    »Verstehe«, sagte sie ernst und
schaute in ihr Glas, »aber ich fürchte, das wird nicht gehen.« Warum denn
nicht, Martin muß doch nichts erfahren, das haben Sie selbst gesagt, wir
könnten einfach so weitermachen, wir kochen abwechselnd, speisen, trinken,
rauchen und plaudern, von mir aus könnte das jeden Abend so gehen, selbst wenn
ich meine gesamte Freizeit ausschließlich in Ihrer Gesellschaft verbringen
müßte, mir würde nicht das Geringste abgehen — das alles sagte ich natürlich
nicht, ich schwieg brav und wunderte mich ein bißchen über ihre Traurigkeit und
Bestimmtheit.
    »Wollen Sie«, fragte sie leise,
»die Sterne sehen?«
    »Sehr gern«, sagte ich eifrig,
»ich habe mich, während Sie draußen gezaubert haben, schon ein bißchen
umgesehen, erstaunlich, diese Vielfalt und Vielzahl, ich wußte auch nicht, daß
Sterne Farben haben, oder ist das nur eine Spielerei des Grafikers?« Ich hatte
mich zur Karte gedreht und fuhrwerkte

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