Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
Alles ist vorübergehend und doch ziemlich dauerhaft. Es ist schwer zu erklären, wie die Dinge ineinander verwoben sind.« Ihre Stimme war rein und sanft. Wenn sie sprach, klang es fast wie eine Melodie. »Der Körper möchte so lange wie möglich an seinen Bindungen festhalten. Meiner ist, wie es scheint, ziemlich zäh, genau wie meine Persönlichkeit. Zäh, dieses Wort gefällt mir. Es klingt besser als stur oder dickköpfig, nicht wahr?«
Sie lachten beide. Ihr Gespräch verlief locker und geradeheraus.
»Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber sind Sie in der Lage, diesen Raum hier zu verlassen?«
»Im Moment nicht. Die Tür, durch die Sie hereingekommen sind, hat sich hinter Ihnen geschlossen, und ich bin nicht in der Lage, sie zu öffnen. Aber es geht mir gut hier drinnen. Alles, was ich während meiner Wartezeit brauchen könnte, steht mir zur Verfügung. Das alles, was Sie hier sehen« – sie ließ den Arm schweifen – »sind meine Erinnerungen. Ich bin dabei, sie zu katalogisieren und zu ordnen, für die Zeit des Sprechens. Nichts geht verloren, wissen Sie.«
»Nichts?«
»Nun, manche Dinge bleiben außerhalb des Fokus unseres Bewusstseins, aber nichts geht wirklich verloren. Haben Sie je einen Sonnenuntergang angeschaut und dabei gespürt, dass dieser Augenblick eine Tiefe hat, die keine Kamera einfangen kann, die Sie sich aber unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen möchten? Wissen Sie, wovon ich spreche?«
»Aber natürlich.« Tony nickte. »Es ist so schön, dass es schmerzt – die momentane Freude und dann das Gefühl des Verlustes, wenn es vorbei ist.«
»Und genau das ist das Wunder: Nichts geht verloren. Die Ewigkeit wird darin bestehen, die Erinnerung auszusprechen und zu feiern, und die Erinnerung wird eine lebendige Erfahrung sein. Mit Worten« – sie lächelte – »lässt sich das nur unvollkommen beschreiben.«
Einige Minuten verbrachten sie schweigend zusammen. Tony bekam das Gefühl, er hätte hier zufrieden sitzen bleiben können, bis es Zeit für etwas anderes war, was immer das sein mochte. Amelia beugte sich vor und berührte seine Hand.
»Danke, Anthony, dass Sie eine alte Dame besuchen kommen. Wo bin ich? Wissen Sie das?«
»In einem Pflegeheim, das einen sehr netten Eindruck macht. Ihre Familie scheut keine Kosten, wie es scheint. Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, aber ich bin mit Clarence gekommen, Ihrem Sohn.«
»Wirklich?« Sie sprang auf. »Mein Clarence ist hier? Glauben Sie, dass ich ihn sehen könnte?«
»Amelia, ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht einmal, wie ich selbst hier herauskommen soll. Nicht dass ich es besonders eilig hätte. Clarence bat mich, Ihnen zu sagen …«
»Dann wollen wir es versuchen. Kommen Sie.« Aufgeregt nahm sie seine Hand und zog ihn hinter sich her zu der Tür, durch die er gekommen war. Es handelte sich um eine alte, schwere Eichentür. Wie Amelia gesagt hatte, gab es keine Türklinke oder dergleichen. Das massive Holz bildete eine unüberwindlich scheinende Barriere. Nur oben in Kopfhöhe befand sich ein kleines Schlüsselloch. Schwach sichtbar, waren große Gestalten in das Holz geschnitzt.
»Cherubim.« Amelia beantwortete die Frage, die sich gerade erst in seinem Bewusstsein formte. »Wunderbare Geschöpfe sind das. Sie spenden Trost, und sie lieben es, Türen und Wege und Portale zu bewachen.«
Da dämmerte es Tony plötzlich. Natürlich! Er zog den Schlüssel unter seinem Hemd hervor, den er von dem Schlüsselbund hatte auswählen dürfen. Konnte das möglich sein? Zögernd, mit angehaltenem Atem, steckte er ihn in das Schlüsselloch. Er passte. Tony drehte ihn herum. Ein blaues, pulsierendes Leuchten floss durch die Schnur, an der Tony ihn um den Hals trug. Die Tür schwang auf, und das Licht aus dem Raum mit Amelias Erinnerungen strömte hinaus in den Raum hinter ihren Augen. Dann verschwand der Schlüssel, und Amelia und Tony standen mit offenen Mündern da.
»Danke, Jesus!«, flüsterte Amelia. Sie ging schnell an Tony vorbei in den Raum hinein. Ihr Clarence und eine Frau, die sie nicht kannte, waren durch das Fenster deutlich zu sehen.
»Mama?« Clarence schaute in Amelias Augen. »Mama, hast du etwas gesagt?«
»Amelia, Ihre Augen sind die Fenster Ihrer Seele«, flüsterte Tony. »Vielleicht können sie Sie hören, wenn Sie etwas sagen.«
Amelia stellte sich dicht hinter die durchsichtige Barriere. Ihre Gefühle waren offenkundig. »Clarence?«, fragte sie.
»Mama? Bist du
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