Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
meine Mutter mich geliebt hat. Und sie war sehr religiös, genügt das nicht? Warum bin ich hier?« Seine Stimme wurde laut. Er spürte, wie ihm die Nerven durchgingen. Verzweifelt rang er um Beherrschung. »Warum habt ihr mich hierhergebracht? Um mir zu demonstrieren, was für ein wertloses Stück Scheiße ich bin?«
Er bückte sich unter dem Eingang der Hütte hindurch und lief hinaus in den frühen Abend. Mit geballten Fäusten ging er am Rand der Treppe auf und ab, kaum sichtbar im flackernden Lichtschein des Feuers, der durch den Eingang nach draußen fiel. Im nächsten Moment kam er wieder zurück in die Hütte, diesmal mit einer klaren Absicht.
Großmutter hatte sich nicht bewegt. Sie beobachtete ihn einfach mit diesen unvergleichlichen Augen. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit spürte er, wie in ihm ein Damm brach. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, doch er schaffte es nicht. Er wusste, er hätte weglaufen sollen, aber er stand stocksteif, und seine Gefühle brachen aus ihm heraus. Er verlor die Beherrschung. Plötzlich schrie er und wedelte mit den Armen, gefangen zwischen Wut und Hoffnungslosigkeit.
»Was genau wollt ihr denn von mir? Dass ich meine Sünden beichte? Dass ich Jesus in mein Leben einlade? Ist es dafür nicht ein bisschen spät? Wie es aussieht, hat er ja schon einen Weg mitten hinein in mein verpfuschtes Leben gefunden! Erkennt ihr gar nicht, wie sehr ich mich für mich selbst schäme? Sehr ihr das nicht? Ich hasse mich! Was soll ich denn denken? Was soll ich tun? Versteht ihr nicht? Ich hatte gehofft …«, seine Stimme erstarb, und eine Erkenntnis brach regelrecht über ihn herein, deren Verwegenheit bewirkte, dass er auf die Knie fiel. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, als neue Tränen hervorströmten. »Versteht ihr nicht? Ich hatte gehofft …« Und dann sprach er es aus, formulierte den Glauben, der sein ganzes Leben beherrscht hatte, so tief verwurzelt, dass er sich dessen selbst jetzt noch, als er es aussprach, nicht völlig bewusst war: »Ich hatte gehofft … der Tod wäre das Ende.« Er schluchzte und brachte die Worte kaum heraus. »Wie kann ich sonst dem entrinnen, was ich getan habe? Wie kann ich mir selbst entkommen? Wenn es wahr ist, was du sagst, dann gibt es keine Hoffnung für mich.«
6
LEIDENSCHAFTLICHE DISKUSSIONEN
»Was leuchten will, muss sich verbrennen lassen.«
Viktor Frankl
A ls er wach wurde, befand er sich immer noch in Großmutters Lehmhütte. Er setzte sich auf. Draußen war es jetzt ganz dunkel. Die Abendkühle kroch durch die Decken vor dem Eingang und ließ ihn frösteln. Am offenen Feuer saßen zwei Gestalten dicht beisammen. Jesus und Großmutter unterhielten sich in gedämpftem Ton über, wenn er richtig verstand, eine Mauer des äußeren Walls, die während der nächtlichen Erdbeben stark beschädigt worden war. Als sie bemerkten, dass er aufgewacht war, sprachen sie lauter, um ihn einzubeziehen.
»Willkommen zurück, Tony«, sagte Jesus.
»Danke, denke ich. Wo bin ich gewesen?«
»Eine Mischung aus Koma und Zorn«, antwortete Großmutter.
»Oh, ja, tut mir leid.«
»Aber das muss es nicht«, versicherte ihm Jesus. »Du hast dir ein wirklich bemerkenswertes Eingeständnis gemacht! Spiele es jetzt nicht herunter, nur weil es dir peinlich ist. Wir glauben, es war wirklich tiefgreifend.«
»Na, toll!«, stöhnte Tony und ließ sich auf die Decken zurückfallen. »Ich liebe den Tod. Wie tröstlich.« Ein plötzlicher Gedanke kam ihm, und er setzte sich wieder auf. »Aber wenn das stimmt, warum kämpfe ich dann so sehr darum, am Leben zu bleiben?«
»Weil Leben das Normale und der Tod die Anomalie ist«, sagte Jesus. »Du wurdest nie für den Tod erschaffen, sondern es entspricht deiner Natur, gegen ihn zu kämpfen. Es stimmt nicht, dass du den Tod liebst. Aber du fühlst den Drang, dich einer Sache hinzugeben, die größer ist als du, etwas außerhalb deiner Macht Liegendes, das dich von deinen Schuldgefühlen und deiner Scham erlöst. Du schämst dich buchstäblich zu Tode.«
»Und damit bist du, weiß Gott, kein Einzelfall«, meldete sich Großmutter zu Wort. »Ich kenne andere, denen es ebenso geht.«
»Da fühle ich mich ja gleich viel besser.« Tony zog sich eine Decke über den Kopf. »Na los, worauf wartet ihr? Erschießt mich!«
»Wir haben eine viel bessere Idee. Möchtest du sie hören?«
Langsam zog Tony die Decke wieder weg, stand auf, nahm sich einen Hocker und stellte ihn dicht ans wärmende Feuer.
»Ich bin
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