Der Weg zurück
Woche sind meine Ferien zu Ende, und ich muss wieder als Schulmeister aufs Dorf. Darauf freue ich mich direkt. Ich will meinen Jungens da beibringen, was wirklich Vaterland ist. Ihre Heimat nämlich, und nicht eine politische Partei. Ihre Heimat aber sind Bäume, Äcker, Erde, und keine großmäuligen Schlagworte. Ich habe mir das lange hin und her überlegt und gefunden, dass wir alt genug sind, eine Aufgabe zu haben. Dies ist meine. Sie ist nicht groß, das gebe ich zu. Aber für mich reicht sie. Ich bin ja auch kein Goethe.« Ich nicke und sehe ihn lange an. Dann brechen wir auf.
Der Chauffeur wartet auf uns. Leise gleitet der Wagen durch die langsam einfallende Dämmerung.
Wir sind schon nahe an der Stadt, und die ersten Lichter flammen bereits auf, da mischt sich in das Knirschen und Mahlen der Reifen ein lang gezogener heiserer, kehliger Laut – am Abendhimmel zieht in der Richtung nach Osten ein hakenförmiger Keil – eine Schar wilder Gänse. –
Wir blicken uns an. Kosole will etwas sagen, schweigt dann aber. Wir denken alle dasselbe.
Die Stadt kommt mit Straßen und Lärm. Valentin steigt aus. Dann Willy. Dann Kosole.
II
Ich war den ganzen Tag im Walde. Jetzt bin ich müde in einem kleinen Landgasthof eingekehrt und habe mir ein Zimmer für die Nacht geben lassen. Das Bett ist schon aufgedeckt, aber ich mag noch nicht schlafen. Ich setze mich ans Fenster und lausche auf die Geräusche der Frühlingsnacht.
Schatten fließen zwischen den Bäumen hindurch, und vom Walde her kommen Rufe, als lägen dort Verwundete. Ich sehe ruhig und gefasst in das Dunkel, denn ich fürchte die Vergangenheit nicht mehr. Ich blicke ihr in die erloschenen Augen, ohne mich abzuwenden. Ich gehe ihr sogar entgegen, ich schicke meine Gedanken zurück in die Unterstände und Trichter – aber wenn sie wiederkehren, bringen sie keine Angst und kein Entsetzen mehr mit, sondern Kraft und Willen.
Ich habe auf einen Sturm gewartet, der mich retten und fortreißen müsste – doch nun ist es leise gekommen, ohne dass ich es gefühlt habe. Aber es ist da. Während ich verzweifelte und alles verloren glaubte, wuchs es still heran. Ich glaubte, Abschied sei immer ein Ende. Heute weiß ich: Auch Wachsen ist Abschied. Auch Wachsen heißt verlassen. Und es gibt kein Ende.
Ein Teil meines Daseins hat im Dienste der Zerstörung gestanden – es hat dem Hass, der Feindschaft, dem Töten gehört. Aber das Leben ist mir geblieben. Das ist beinahe eine Aufgabe und ein Weg. Ich will an mir arbeiten und bereit sein, ich will meine Hände rühren und meine Gedanken, ich will mich nicht wichtig nehmen, sondern weitergehen, auch wenn ich manchmal bleiben möchte. Es gibt vieles aufzubauen und fast alles wiedergutzumachen, es gibt zu arbeiten und auszugraben, was verschüttet worden ist in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre. Nicht jeder braucht ein Pionier zu sein – es werden auch schwächere Hände und geringere Kräfte gebraucht werden. Dort will ich meinen Platz suchen. Dann werden die Toten schweigen, und die Vergangenheit wird mich nicht mehr verfolgen, sondern mir helfen.
Wie einfach das alles ist; aber wie lange hat es gedauert, dahin zu finden. Und vielleicht hätte ich mich doch noch im Vorgelände verirrt und wäre den Drahtschlingen und Sprengkapseln zum Opfer gefallen, wenn nicht Ludwigs Tod wie eine Rakete vor uns aufgeschossen wäre und uns den Weg gezeigt hätte. Wir verzweifelten, als wir sahen, dass der Strom unserer Gemeinschaft, der Wille des gewaltig schlichten, an der Grenze des Todes wiedergewonnenen Lebens, nicht die überlebten Formen der Halbwahrheit und der Selbstsucht wegfegte und sich neue Ufer suchte, sondern versickerte in den Mooren des Vergessens, abgeleitet wurde in die Sümpfe der Phrasen, verrieselte in den Gräben der Verhältnisse, der Sorgen und Berufe. Heute weiß ich, dass alles im Leben vielleicht nur Vorbereiten ist und Wirken im Einzelnen, in vielen Zellen, in vielen Kanälen, jedes für sich – und so wie die Zellen und Kanäle eines Baumes den aufwärts drängenden Saft nur aufzunehmen und weiterzuleiten brauchen, so wird wohl auch daraus dann einmal Rauschen und besonntes Laub werden, Wipfel und Freiheit. Ich will anfangen.
Es wird nicht die Erfüllung werden, von der wir in der Jugend geträumt und die wir nach den Jahren draußen erwartet haben. Es wird ein Weg sein wie die andern, mit Steinen und guten Strecken, mit aufgerissenen Stellen und Dörfern und Feldern – ein Weg der
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