Der Weg zurück
nichts. Sie werden wohl angeschrien, aber jeder geniert sich, die Hand gegen sie zu erheben.
»Na«, sagt Willy, »wenigstens der Bürgermeister hat Courage.«
»Ach, der ist das gewöhnt«, meint der Artillerist, »den holen sie alle paar Tage mal raus. –«
Wir sehen ihn erstaunt an. »Passiert denn so was öfter?«, fragt Albert.
Der andere nickt. »Es kommen ja immer noch neue Truppen zurück, die meinen, dass sie aufräumen müssen. Na, und dabei bleibt’s dann. –«
»Mensch, das versteh ich nicht«, sagt Albert.
»Ich auch nicht«, erklärt der Artillerist und gähnt herzhaft, »hab’s mir auch anders vorgestellt. Na adjüs, ich trudele in meine Flohkiste. Das ist vernünftiger.«
Andere folgen. Der Platz leert sich zusehends. Ein zweiter Delegierter spricht jetzt. Auch er mahnt zur Ruhe. Die Führer würden für alles sorgen. Sie seien schon bei der Arbeit. Er zeigt auf die erleuchteten Fenster. Am besten wäre es, wir gingen nach Hause.
»Verflucht, und das ist alles?«, sage ich ärgerlich.
Wir kommen uns beinahe lächerlich vor, weil wir mitgegangen sind. Was haben wir vorhin nur gewollt? »Scheiße«, sagt Willy enttäuscht. Wir zucken die Achseln und schlendern fort.
Eine Zeit lang bummeln wir noch herum, dann trennen wir uns. Ich bringe Albert nach Hause und gehe allein zurück. Aber es ist sonderbar: Jetzt, wo meine Kameraden nicht mehr bei mir sind, beginnt alles um mich herum leise zu schwanken und unwirklich zu werden. Eben noch war es selbstverständlich und fest, jetzt aber löst es sich plötzlich und ist so bestürzend neu und ungewohnt, dass ich beinahe nicht mehr weiß, ob ich nicht alles nur träume. Bin ich denn da? Bin ich wirklich wieder da und zu Hause?
Da liegen die Straßen steinern und sicher, mit glatten, schimmernden Dächern, nirgendwo klaffen Löcher und Granatrisse, unversehrt ragen die Mauern in die blaue Nacht, dunkel schneiden die Silhouetten der Balkone und Giebel hinein, nichts ist angefressen von den Zähnen des Krieges, die Fensterscheiben sind alle heil, und hinter den hellen Wolken ihrer Gardinen lebt eine gedämpfte andere Welt als die heulende des Todes, in der ich bislang zu Hause war.
Vor einem Hause, in dem die untern Fenster erleuchtet sind, bleibe ich stehen. Musik klingt leise heraus. Die Vorhänge sind nur halb zugezogen. Man kann hineinsehen.
Eine Frau sitzt am Klavier und spielt. Sie ist allein. Nur das Licht einer Stehlampe fällt auf die weißen Notenblätter. Das übrige Zimmer verschwimmt in buntem Halbdämmer. Ein Sofa und einige Stühle mit Lehnen und Polstern führen in ihm ein friedliches Dasein. In einem Sessel liegt ein Hund und schläft. Ich starre wie verzaubert auf dieses Bild. Erst als die Frau aufsteht und mit weichen Schritten lautlos zum Tisch geht, trete ich rasch zurück. Mein Herz schlägt. Im wilden Licht der Leuchtraketen und unter den zerschossenen Ruinen der Frontdörfer habe ich fast vergessen, dass es dies alles noch gibt: diesen straßenweit in Räume gemauerten Frieden der Teppiche, der Wärme und der Frauen. Ich möchte die Haustür öffnen und in das Zimmer hineingehen, ich möchte mich in den Sessel kauern, die Hände in die Wärme halten und mich davon überströmen lassen, ich möchte sprechen und das Harte, Heftige, Vergangene unter den stillen Augen der Frau auftauen und hinter mir lassen, ich möchte es ausziehen wie einen schmutzigen Anzug. – Das Licht im Zimmer erlischt. Ich gehe weiter. Aber die Nacht ist auf einmal voll von dunklen Rufen und undeutlichen Stimmen, voll von Bildern und Vergangenem, voll von Fragen und Antworten.
Ich wandere weit hinaus. Auf der Anhöhe des Klosterberges bleibe ich stehen. Silbern liegt unten die Stadt. Der Mond spiegelt sich im Fluss. Die Türme schweben, und es ist unfassbar still. Ich stehe eine Weile und gehe dann zurück, wieder den Straßen und Wohnungen zu.
Leise tappe ich zu Hause die Treppe hinauf. Meine Eltern schlafen schon. Ich höre ihren Atem – den leiseren meiner Mutter und den rauheren meines Vaters – und schäme mich, dass ich so spät wiedergekommen bin.
In meinem Zimmer mache ich Licht. In der Ecke steht das Bett, weiß bezogen, mit aufgeschlagener Decke. Ich setze mich darauf und hocke noch eine Weile so da. Dann werde ich müde. Mechanisch strecke ich mich aus und will die Decke über mich ziehen. Aber plötzlich setze ich mich wieder auf, denn ich habe ganz vergessen, mich auszuziehen. Draußen schliefen wir ja immer nur in unserm Zeug. Langsam
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