Der Weg zurück
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Siebenter Teil
I
Sind Jahre vergangen? Oder waren es nur Wochen? Wie ein Nebel, wie ein fernes Gewitter hängt die Vergangenheit am Horizont. Ich bin lange krank gewesen, und immer war das besorgte Gesicht meiner Mutter da, wenn das Fieber einmal wich. Dann aber kam eine große Müdigkeit, die alle Härte wegnahm, ein waches Schlafen, in dem alle Gedanken sich auflösten, eine matte Hingabe an das leise Singen des Blutes und die Wärme der Sonne. –
Die Wiesen leuchten im Glanz des Spätsommers. In Wiesen liegen – die Halme sind höher als das Gesicht, sie biegen sich, sie sind die Welt, nichts ist mehr da als sanftes Schwanken im Rhythmus des Windes. An den Stellen, wo das Gras allein wächst, hat der Wind einen leise sirrenden Ton, wie eine Sense von weither – da, wo der Sauerampfer steht, ist sein Ton dunkler und tiefer. Man muss lange ruhig sein und lauschen, um es zu hören. Dann aber wird die Stille lebendig. Winzige Fliegen mit schwarzen, rot gepunkteten Flügeln sitzen dicht beisammen auf den Rispen des Sauerampfers und schwanken mit den Stängeln hin und her. Hummeln summen wie kleine Flugzeuge über den Klee, und ein Marienkäferchen klettert einsam und beharrlich zur höchsten Spitze eines Hirtentäschelkrautes hinauf.
Eine Ameise erreicht mein Handgelenk und verschwindet im Tunnel meines Rockärmels. Sie schleppt ein Stück trockenes Gras, das viel länger ist als sie, hinter sich her. Ich spüre den leisen Reiz an meiner Haut und weiß nicht: Ist es die Ameise oder das Grasstückchen, das diesen zarten Streifen Leben an meinem Arm entlangzieht und kleine Schauer auslöst? Dann aber weht der Wind in den Ärmel, und ich empfinde: alles Streicheln der Liebe muss grob sein gegen diesen Hauch auf der Haut.
Schmetterlinge taumeln heran, so sehr dem Wind hingegeben, als schwämmen sie auf ihm, weiße und goldene Segel der zärtlichen Luft. Sie verweilen an den Blüten, und plötzlich, als ich wieder die Augen hebe, sehe ich zwei still auf meiner Brust sitzen, einer wie ein gelbes Blatt mit roten Punkten, der andere ausgebreitet mit violetten Pfauenaugen auf tiefdunklem Samtbraun. Orden des Sommers. Ich atme sehr leise und langsam, dennoch bewegt mein Atem ihre Flügel – aber sie bleiben bei mir. Der helle Himmel schwebt hinter den Gräsern, und eine Libelle steht mit schwirrenden Schwingen über meinen Schuhen. Weiße Marienfäden, Spinngewebe, schimmernde Altweibersommer wehen in der Luft. Sie hängen an den Stängeln und Blättern, der Wind treibt sie heran, sie hängen über meinen Händen, meinem Anzug, sie legen sich auf mein Gesicht, über meine Augen, sie decken mich zu. Mein Körper, eben noch mein Körper, geht über in die Wiese. Seine Grenzen verschwimmen, er ist nicht mehr abgesondert, das Licht löst seine Konturen auf, und an den Rändern beginnt er undeutlich zu werden.
über das Leder der Schuhe steigt der Atem der Gräser, in die Wollporen des Anzugs dringt der Hauch der Erde, durch mein Haar weht bewegter Himmel: Wind – und das Blut klopft gegen die Haut, es hebt sich den Eindringenden entgegen, die Nervenspitzen richten sich auf und beben, schon fühle ich die Schmetterlingsfüße auf meiner Brust, und der Gang der Ameisen widerhallt in den konkaven Räumen meiner Adern – dann wird die Welle stärker, der letzte Widerstand zerschmilzt, und ich bin nur noch ein Hügel ohne Namen, Wiese, Erde. –
Die lautlosen Ströme der Erde kreisen herauf und hinab, und mein Blut kreist mit ihnen, es wird davongetragen und hat Anteil an allem. Durch das warme Dunkel der Erde fließt es mit den Stimmen der Kristalle und Quarze, es ist in dem geheimnisvollen Laut der Schwere, mit dem die Tropfen zwischen den Wurzeln niedersinken und sich zu den dünnen Rinnsalen sammeln, die ihren Weg zu den Quellen suchen. Es bricht mit ihnen wieder aus dem Boden hervor, es ist in Bächen und Flüssen, im Glanz der Ufer, in der Weite des Meeres und im feuchtsilbernen Dunst, den die Sonne wieder heraufzieht zu den Wolken – es kreist und kreist, es nimmt immer mehr von mir mit und spült es in die Erde und die unterirdischen Ströme, langsam und ohne Schmerzen verschwindet der Körper, er ist fort, nur noch Stoffe und Hüllen sind da, er ist Sickern unterirdischer Quellen geworden, Gespräch der Gräser, wehender Wind, rauschendes Laub, schweigend tönender Himmel. Die Wiese kommt näher, Blumen wachsen hindurch, Blüten schwanken darüber, ich bin versunken, vergessen, verströmt unter Mohn und
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