Der weibliche Weg Gottes
Zeit dazu, dass ich andere Menschen auf dem Camino unter dem Blickwinkel des ersten Eindrucks in handliche Kästchen verpacke. Mit zunehmender Verweildauer auf dem Camino wird sich das Bild differenzieren, vollständig werden. Schauen wir doch mal, wer alles so auf dem Weg unterwegs ist.
Da sind zunächst einmal die Luxus-Pilger. Sie übernachten in Hotels, Refugios oder unter dem Sternenzelt, genießen die Zeit, verlassen oft als Letzte das Refugio, schätzen Spanische Küche und Spanische Weine, trinken nach dem Essen zum Espresso einen Digestif und rauchen schon mal eine Zigarre oder Zigarette dazu. Sie essen abends und manchmal auch mittags exorbitant und kommen mehr oder weniger voran. In dieser Kategorie sonnen sich viele Spanier, Brasilianer und andere Genussmenschen.
Eil-Pilger sind die, die am Morgen noch vor der Dämmerung aufstehen. Sie packen in aller Eile, wie es der Name bereits sagt, ihren Rucksack und stürmen von dannen, um nach vielen ereilten Kilometern früh das nächste Refugio zu erreichen, wo sie dann völlig ermattet darniederliegen und für Stunden außer Gefecht gesetzt sind.
Plastiktüten-Pilger haben vermutlich jeden Gegenstand einzeln in Plastiktüten eingewickelt. Vielleicht finden sie das besonders ordentlich. Das Verpacken eines Rucksacks nimmt minutenlange Knisterzeit in Anspruch. Die Mitglieder dieser Gruppe schaffen es mit Leichtigkeit, in einem Schlafsaal die Aggressionen zum Leben zu erwecken.
Parador-Pilger tragen ihren Namen nach der gleichnamigen Fünf-Sterne-Hotel-Kette. Sie sind stets makellos gekleidet. Ihr schweres Gepäck lassen sie transportieren, und spätestens zum Tee erscheinen sie frisch gestylt in der Lobby besagter oder vergleichbarer Hotels. Es gibt nicht sehr viele dieser Hotels auf dem Weg. Wahrscheinlich sieht man die Pilger deshalb so selten außerhalb der Hotels.
Man kann sie gar nicht verwechseln mit gewöhnlichen Bus-Pilgern, die kurz vor Santiago vermehrt auftauchen werden. Diese schlafen ebenfalls in Hotels. Gepäck, Lunchpakete und Fußkranke führen sie im Bus mit. Oft werden die Gruppen von christlichen Vereinigungen organisiert und begleitet. Auf dem Camino erkennt man sie am beschwingten Gang, den weißen Beinen und dem kleinen Tagesrucksack auf dem Rücken.
Die Gruppe der Nachteulen-Pilger ist relativ klein. Da in den meisten Refugios spätestens um 22.30 Uhr das Licht rigoros ausgemacht und die Eingangstüren verschlossen werden, stellt sich von selbst die Bettruhe ein.
Auch die Gruppe der So-tun-als-ob-Pilger ist klein, dafür aber umso auffälliger. Das Gerücht über ihr Nahen ist meist schon Tage vor ihrem Erscheinen unterwegs. Sie fahren mit dem eigenen Auto, dem Bus oder Taxi von einem Refugio zum nächsten. Kurz vor ihrem Ziel stellen Sie das Auto ab, laufen die letzten Meter mit Rucksack und genießen dort den Vorzug einer fast kostenlosen Übernachtung mit Dusche. Sie bekommen immer ein Nachtquartier im Refugio, weil sie meist noch vor den Eil-Pilgern an Ort und Stelle sind.
Fahrrad-Pilger sind eine Gruppe für sich. Die Geschwindigkeit, mit der sie vorankommen, lässt nur flüchtige Begegnungen zu.
Fuß-Pilger wollen die gesamte Strecke zu Fuß laufen — und tun es auch. Ohne Rucksack auf dem Rücken bewegen sie sich steif, und bei jedem Aufstehen stöhnen sie — zumindest auf den ersten 400 Kilometern.
Fifty-fifty-Pilger gehen mal zu Fuß, mal fahren sie ein Stück mit dem Bus oder Taxi. Es gibt solche und solche. Die einen reden darüber, die anderen (ver-)schweigen schamhaft.
Der Chor der Schnarcher verteilt sich über alle Schubladen und lässt manchen Pilger von Zeit zu Zeit zum Luxuspilger werden. Ich brauche unbedingt mal wieder eine ungestörte Nachruhe, habe ich oft gehört.
Die Kilometer-Pilger, sind die, deren erste persönliche Aussage über sich selbst die Anzahl der gelaufenen Kilometer ist. Detailliert nach heute Vormittag und heute Nachmittag. Danach folgt unweigerlich der exakte Ankunftstag in Santiago.
Die Zugehörigkeit zu den Gruppen ist fließend und kann sich je nach Ort und Gegebenheit verändern. Die Mitgliedschaft in einer Gruppe schließt nicht unbedingt die in einer anderen aus. Das kann schon mal zu Spannungen führen, wenn ein Eil-Pilger sich als Plastiktüten-Pilger outet. Aber die Menschen auf dem Camino zeichnen sich durch ein hohes Maß an Toleranz aus. Jeder macht den Weg auf seine spezielle Art und Weise und dabei die Erfahrungen, die für ihn wichtig sind habe ich oft gehört und selbst
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