Der weibliche Weg Gottes
ist ermordet worden. Dies ist eine Schweigeminute gegen Gewalt und Terror. Vor mir steht eine Mutter mit ihrem Kind. Sie hält es an der Hand, und das Kind vergräbt den Kopf im Mantel der Mutter. Schützend legt die Mutter ihre andere Hand auf den Kopf des Kindes.
Das löst die Tränen in mir. Diese Liebe berührt mich, macht mich weich und durchlässig für Begegnungen. So viel Liebe und Verbundenheit von beiden Seiten, dieses zärtliche Geben und Nehmen, es berührt mich beim Beobachten. Diese Einheit und zärtliche Fürsorge, dieses vertrauensvolle Anschmiegen konnte keine der Mariendarstellungen ausdrücken. Hier ist die Liebe zwischen Mutter und Kind fühlbar, die des Künstlers zu seinem Werk hatte mich nicht erreicht.
Ich bin überzeugt, Maria, du hast diese Liebe von deinem Kind bekommen und ihm auch gegeben.
Luxuspilger
Nur einen Tag später sitze ich in Sandalen und T-Shirt vor dem Café Iruna in der Mittagssonne. Die Stadt hat ihr Gesicht verändert. War es gestern noch grau und abweisend mit hastenden Menschen, die bis zur Nasenspitze warm eingemummelt waren, so bestimmen heute leicht gekleidete Spanier das Straßenbild. Fröhlich und laut schwatzend sitzen sie an den Nachbartischen mit Blick auf die Plaza del Castillo.
Morgen geht es weiter. Der Abschied vom Komfort fällt mir nicht ganz leicht, und ich stöhne in Gedanken, wenn ich an die schlammigen Wege denke. Aber ich habe mir Zeit genommen, das ist Luxus. Ich weiß noch nicht, wann und wie ich zurückkomme, habe keinen Terminplan, der drängt und einengt. Auch das ist Luxus. Für meinen speziellen Luxus bezahle ich auch: kein Einkommen, schwindende Sicherheit, keine Ahnung, ob ich den Einstieg wieder schaffe.
So vieles ist Luxus nach neun Tagen Wanderschaft. Jederzeit hier in Pamplona ein gutes Essen zu bekommen, das beheizte Hotelzimmer, eine Nacht ohne Schnarcher, die warme Sonne. Einiges davon kostet Geld, das verbindet man ja landläufig auch mit Luxus. Andere Dinge gibt es gratis. Dieser kleine Tisch hier mitten in Pamplona in der Sonne mit einem Sherry und der Süddeutschen ist Luxus. Ich kann meine Gedanken treiben lassen oder verweilen, wie immer ich will, kann verschwenderisch mit meiner Zeit umgehen, während andere für mich arbeiten, um es mir hier im Café angenehm zu machen oder mir die Zeitung von gestern zu liefern.
Mein schönes Hotelzimmer, das ich so begeistert bezogen habe, ist in Deutschland ganz normaler Standard. Ohne die Erlebnisse, die ich in den neun Tagen vorher gehabt habe, wäre ich vermutlich gedankenlos eingezogen. Das Empfinden von Luxus ist wunderbar, aber unbeständig wie alles im Leben. An Luxus kann man sich gewöhnen, dann ist es normaler Lebensstandard. Noch eine Woche in Pamplona und alles wäre wieder wie immer, keine Spur des Besonderen würde übrig bleiben.
Bewusstheit ist mein persönlicher, kostenloser, aber kostbarer Luxus: das Schöne im Augenblick zu genießen und auch bewusst wahrzunehmen als etwas Einmaliges, was so, genau so, nicht wieder kommen wird. Zeit zu haben für dieses Anhalten der Gedanken, um sich dem Augenblick zuzuwenden.
Wie ein Schmetterling, der sich für einen Augenblick auf die Hand setzt und dessen zarte Füßchen die Haut streicheln. Das ist Schönheit, das ist Vollkommenheit — und es ist Vergänglichkeit. Wie alles im Leben, und deshalb so kostbar und besonders wie jede Sekunde im Leben und die Sekunde der Ewigkeit, die wir unser Leben nennen. Festhalten wäre Stillstand, und Stillstand ist Sterben.
Angelika kommt direkt aus der Arbeit auf den Camino, unvorbereitet, mit einem riesigen Rucksack, gestresst, aber voller guter Laune und Vorfreude. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zeit. Von nun an werde ich bestimmt nicht allein sein — denke ich.
Also machen wir uns am nächsten Morgen auf den Weg. Mir ist nach diesen ersten Tage das Wandern vertraut. Mein Auge hat sich an die gelben Pfeile gewöhnt, die uns den Weg weisen. Auf Steinen, an Bäumen, Häusern, Straßenschildern. Das Gewicht des Rucksacks ist zur Gewohnheit geworden, das Laufen geschieht ganz automatisch, ohne Anstrengung. Ich kann meine Kondition recht gut einschätzen, und nachdem ich mir bewusst geworden bin, dass die Hängematte für mich reizlos ist, wähle ich die Entfernungen dementsprechend. Für Angelika ist alles neu. Also werde ich in den nächsten Tagen langsamer gehen, mein Tempo ihrem anpassen, mich zurücknehmen. Meine Betrachtungen über das Luxus-Leben hier führen in der folgenden
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