Der weibliche Weg Gottes
hier in der Kathedrale. Da haben die katholischen Kirchen den evangelischen einiges voraus. Menschen brauchen sichtbare Symbole, denn die Augen sind das Tor zur Seele. Ein dunkles Kreuz auf weißer Wand hat so etwas Bedrohliches für mich. Es erinnert mich nur an Schuld, Qualen und Tod. Es fällt mir immer noch schwer, es mit Liebe, Glück und Leichtigkeit in Verbindung zu bringen.
Zeit steh' still, wünsche ich mir manchmal. Aber Leben ist Veränderung — immer wieder. Es gibt die Geschichte eines Mannes, der von einem vorbeireitenden Ritter getötet wird, weil er ausruft „Zeit, steh' still“ — wer die Veränderung nicht will, der will auch das Leben nicht, ist die Botschaft der Geschichte.
Veränderung ist die einzige verlässliche Konstante im Leben, das Einzige, worauf man sich verlassen kann, auch wenn es einem manchmal schwer fällt zu akzeptieren, vor allem in so glücklichen Zeiten wie diesen.
Am dritten Tag weiß ich, nun ist auch mein Abschied gekommen. Täglich erreichen jetzt Pilger Santiago, die ich nicht kenne. Ich beginne mich fremd zu fühlen. Hier kann ich loslassen, dieser Camino ist zu Ende, mein persönlicher Camino geht weiter.
Wenn ich mir am Anfang vorgestellt habe, wie es wohl sein würde, Santiago de Compostela erreicht zu haben, so habe ich an Erschöpfung, Blasen an den Füßen und einen konkreten Plan für meine Zukunft gedacht. Nichts davon ist eingetroffen. Ich fühle mich beschwingt und ausgeruht, könnte gut noch weiterlaufen. Würde es einerseits gerne tun, um die Ratlosigkeit durch Aktivität zu überspielen. Andererseits ist es wohl besser, genau das nicht zu tun und die Unsicherheit auszuhalten. Ein paar Tage Strandleben an der Küste Galiciens, dann geht es zurück.
Für die Rückreise nehme ich den Flieger mit Zwischenstopp auf Mallorca. Die sechs Stunden Wartezeit auf meinen Anschluss verbringe ich auf dem Flughafen. Es ist Nacht, die Hallen scheinen ausgestorben zu sein, bis ich auf ein geöffnetes Restaurant im ersten Stock stoße. Davor eine Gruppe mit Kids aus England, weiß im Gesicht, übernächtigt, mit roten Augen. Wahrscheinlich sind sie direkt aus der Disco zum Flughafen gefahren. Eine andere Welt. Ich esse ein Bocadillo. Der Kreis hat sich geschlossen.
Auf Spurensuche
Es gibt keine Vision, wie mein Leben von nun an verlaufen soll, was ich erreichen will, kein Ziel für die nächsten drei, fünf, sieben, zehn Jahre. Nicht einmal wo ich wohnen will, ist mir klar geworden. Es hat Augenblicke gegeben, in denen ich mich mit diesen Fragen beschäftigt habe, auch Gespräche, die diese Richtung einschlugen. Aber es fehlt die Kraft, die Intuition, das gefühlte Wissen um die Richtung.
Noch ist Zeit, mein Aussteigerjahr ist nicht zu Ende. Also wandere ich, reise, besuche Freunde. Die Vergangenheit liegt hinter mir, die Zukunft beginnt heute. Jetzt bin ich im Fluss, lasse mich treiben, sehe kein Ufer. Manchmal habe ich Angst, wünsche mir Klarheit, will wissen, was ist, wohin die Reise geht. Es gibt Überfälle von Existenzangst, plötzlich und ohne konkreten momentanen Bezug. Eine ganz reale Angst, wenn ich so weiterleben würde.
Kirchen besuche ich, wenn gerade keine Andacht stattfindet. Hier fühle ich mich besonders verbunden mit denen, die mit mir auf dem Camino waren. Ich schließe die Augen und sehe ihre Gesichter vor mir, sehe uns durch Galicische Dörfer gehen, in denen die Häuser und Straßen so aussehen, als sei die Zeit vor fünfzig Jahren stehen geblieben, sehe Frauen in Kittelschürzen Kühe vor sich hertreiben und mitten in einem solchen Ort einen großen, chromblitzenden Cola-Automaten. Ich sehe Wege im Nieselregen, einen kleinen Fluss, den wir barfuß durchqueren, sehe Sonne in Finisterre, am Ende der Welt, und die weißen Sandstrände Galiciens. Ich sehe uns lachen, Anhöhen schwitzend emporstapfen, die endlosen Wege der Meseta. Dann sende ich liebevolle Wünsche denen zu, die mir dort begegnet sind, und nehme sie in Gedanken in den Arm. Ich bin nicht traurig, dass es zu Ende ist, die Erinnerung macht mich voll und reich. Wer mich so sieht, wird das für ein Gebet halten.
SIE bleibt bei mir. Auch in meiner vertrauten Umgebung, merke ich mit Erstaunen. Die Zeit vergeht, es gibt neue Einflüsse, neue Menschen. SIE ist da, das fühle ich. Das Vertrauen in IHRE Existenz wird nicht weniger, bleibt konstant. In dem Maße, wie ich IHR zu vertrauen beginne, dass SIE bei mir bleiben wird, wächst das Vertrauen in mich. Es ist also wahr, was ich erlebt
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