Der Weihnachtspullover
verkehrt vor, dass ich derjenige war, der nahe vor dem Gerät saß, und er derjenige, der den Krebs bekam.
Taylor wusste ja gar nicht, wie gut er es hatte. Man musste sich bloß dieses moderne Haus ansehen, das der Fernsehserie Drei Mädchen und drei Jungen entsprungen zu sein schien, um zu erkennen, dass diese Familie glücklich war. Sie hatten sogar eine Fernbedienung. Taylor würde bestimmt nie Krebs bekommen oder blind werden und sich dabei nicht einmal bewusst sein, welchem Schicksal er entgangen war.
Nach einer Weile begann ich mir einzureden, dass ich zu ihrer Familie gehörte – mehr als ich jemals zu meiner echten Familie ein paar Farmen weiter gehört hatte. Sie hatten keine Probleme, und das Leben hier war leicht. Es war genau so, wie es in einer richtigen Familie sein sollte. Mom hatte mir immer einzureden versucht, dass »Dinge« einen nicht glücklich machten, aber jetzt wurde mir klar, dass sie sich geirrt hatte. Taylor hatte einen Haufen Krempel, und er war glücklicher, als ich es jemals gewesen war.
Was mir anfangs wie ein langer Marsch zu den Taylors vorgekommen war, erschien mir mit jedem Mal kürzer. Eines der Grundstücke unterwegs war zugewuchert und offenbar verlassen, aber eines Tages stellte ich auf dem Nachhauseweg fest, dass ich mich getäuscht hatte.
»Guten Tag«, sagte ein Mann in abgetragenen Sachen, der an einem der wenigen stabilen Abschnitte des Zaunes lehnte, der entlang der Straße verlief. Er war ungefähr so alt wie mein Großvater, aber dünner und viel kleiner. Seine Augen schienen zu einem viel jüngeren Mann zu gehören, doch sein Gesicht strotzte nur so vor Dreck, und sein voller, gesprenkelter Bart spross ihm auf eine Weise, als versuche er, aus dem Gesicht zu entkommen. Hätte er nicht draußen vor seiner Farm gestanden, hätte ich ihn wohl für einen Obdachlosen gehalten.
»Hallo«, sagte ich und blieb in sicherer Entfernung stehen.
»Bist wohl auf dem Nachhauseweg von deinem Freund.« »Jawohl, Sir«, erwiderte ich und fühlte mich ein wenig unbehaglich, weil er wusste, woher ich kam.
»Ich wette, du fühlst dich dort wohl«, sagte er verständnisvoll.
»Jawohl, Sir.«
»Nun, wir sind beide beschäftigte Leute. Ich wünsche dir einen schönen Abend.«
»Gleichfalls«, sagte ich. Ich entfernte mich ein paarSchritte und blickte mich dann um, weil ich sehen wollte, ob er mich beobachtete.
Das tat er.
»Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte er mit einer Stimme, die sich auf eine solch drastische Weise von der unterschied, mit der er wenige Augenblicke zuvor noch mit mir gesprochen hatte, dass sie genauso gut von einem anderen Menschen hätte stammen können. Seine Augen fixierten die meinen, doch sein Gesicht erschien mir dabei völlig entspannt. »Aber es wird alles wieder gut werden, mein Junge. Es wird alles wieder gut.«
Diese Worte – die Worte meines Großvaters – riefen sofort die Erinnerungen an Moms Beerdigung in mir wach. Ich vermochte mich nicht zu rühren, nicht einmal den Blick abzuwenden. Das liebenswürdige Gesicht des Mannes und seine tiefblauen Augen hatten sich in etwas anderes verwandelt. Ich erblickte das Gesicht meiner Mutter so klar und deutlich vor mir, dass ich nicht mehr länger den Fremden sehen konnte – da waren nur die letzten Tage ihres Lebens, die vor meinen Augen rückwärtsliefen.
Sie lag geschminkt und friedlich in einem billigen Sarg. Sie saß auf der Heimfahrt von der Farm erschöpft und zutiefst gekränkt im Wagen.
Sie stand enttäuscht und gedemütigt über einen am Boden liegenden Pullover gebeugt.
Sie würgte ein Stück bittere Baker’s-Schokolade herunter.
Ich wurde mit einem Mal vom Kummer übermannt. Gepresste Schluchzer drangen aus meiner Kehle, und Tränen strömten mir über die Wangen. Ich sank zu Boden, setzte mich im Schneidersitz in das harte Gras und verbarg das Gesicht in den Händen. Zum ersten Mal seit meine Mutter gestorben war, weinte ich.
Nachdem meine Schultern ein letztes Mal gezuckt hatten, blickte ich mit feuchten Augen zu dem Zaun und dem Fremden hinüber.
Ich konnte es erst nicht glauben, aber tatsächlich – er lächelte. Und dann machte er sich auf den Rückweg zum Farmhaus. Unterwegs blieb er noch einmal stehen, drehte sich zu mir um und sah mich an. »Bis zum nächsten Mal, Eddie.«
»Grandpa, wer wohnt eigentlich auf dieser heruntergekommenen Farm nebenan?«, fragte ich, immer noch ein wenig aufgewühlt von der seltsamen Begegnung, beim
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