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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bewältigen«, erwiderte Narraway knapp. »Wen haben Sie drinnen gesehen, abgesehen von Grant und dem sterbenden Wachposten?«
    »Sonst niemanden«, antwortete Attwood gehorsam. »Ich habe in die Zelle geschaut, in der Dhuleep eingesperrt gewesen war. Sie war leer, bis auf das blutige Bettzeug auf dem Boden.«
    »Viel Blut?«
    »Ziemlich viel. Als ob es einen Kampf gegeben hätte. Wahrscheinlich ist Dhuleep mit dem Säbel auf Chuttur losgegangen. Einer der beiden hat einen dieser Sikh-Säbel gehabt – scharf sind die, wie ein Rasiermesser – und der andere hat sich zu verteidigen versucht, wohl ziemlich erfolglos. Ein feiger Mord war das, nicht einmal ein richtiger Kampf. Und alles wegen Tallis. Der muss Chuttur einen ziemlichen Schlag versetzt haben, bevor er Dhuleep rausließ. Verdammter Feigling, wenn Sie mich fragen – Sir.«
    Narraway konnte sich nur mühsam beherrschen. Er war gar nicht einmal anderer Ansicht als Attwood. Auch störte ihn dessen verächtliche Haltung nicht. Nein, er ärgerte sich über seine eigene Hilflosigkeit und seine ungeheure Frustration darüber, dass Tallis es geschafft hatte, ihn sympathisch zu finden, ja, Narraway für einen Augenblick sogar an seine Unschuld hatte glauben lassen.
    »Haben Sie verstanden, was Chuttur Singh zu Grant sagte?«
    »Nicht den genauen Wortlaut, irgendwas wie, dass jemand reingekommen ist und ihn überrumpelt hat. Hat natürlich nicht gesagt, wer das war. Vielleicht hat er ihn nicht einmal gesehen. Der arme Teufel lag im Sterben, als wir kamen. Dieser Mistkerl hatte ihn übel zugerichtet.« Attwoods düsterer Blick war voller Wut und Trauer. Er war ein kampferprobter Soldat, aber er war nicht immun gegen den Schmerz oder gegen den Verlust eines Freunds, mochte er auch schon Hunderte Tote gesehen haben und die ganze Brutalität des Kriegs kennen.
    »Wir konnten ihm nicht mehr helfen«, fuhr er fort. »Hat uns gesagt, wir sollten dem ausgebrochenen Gefangenen hinterher, dass der von der Patrouille wusste und dass wir ihn finden mussten. Haben wir nicht, aber bei Gott, wir habe n ’s versucht.« Er presste die Lippen zusammen, blickte Narraway mit tränenerfüllten blauen Augen an, aber trotzte dem Impuls, sich den Gefühlen vollends hinzugeben.
    »Ja, ich weiß«, stimmte Narraway ihm hastig zu. »Korporal Grant sagte allerdings, Sie hätten Blutspuren und Stiefelabdrücke gefunden. Die hätten vermutlich jedem gehören können. Keiner hat ihn gesehen, stimmt das?«
    »Zumindest gibt es keiner zu«, meinte Attwood.
    »Er hatte doch sicherlich Spuren von Blut an sich, oder?«
    »Für manche sieht ein Sikh-Soldat aus wie der andere«, warf Attwood trocken ein. »Andere haben Angst, verschließen die Augen, wenn sie etwas nicht sehen wollen. Hier ist doch jeder voller Angst und hat diesen Zustand satt. Dann wollen die meisten nicht hinschauen. Da können sie schon gar nicht mehr einen Sikh vom andern unterscheiden. Wir haben zu viele Menschen verloren, Sir. Viele Frauen, viele Kinder. Verdammte Barbaren. Ich frag Sie, wer tötet schon Frauen und Kinder?« Er blinzelte, als er Narraway anstarrte. »Zögern Sie die Sache nicht hinaus, Sir. Wir müssen sie zu einem Ende bringen. Schauen Sie, dass sie vor Weihnachten abgeschlossen ist. Vergessen Sie nicht, wer wir sind und warum wir hier sind. Sie verstehen, was ich meine?«
    »Ja, Unteroffizier Attwood, das tue ich. Aber wir werden die Sache nie abschließen, wenn wir es nicht ordentlich machen.«
    »Na, dann machen Sie ’s eben ordentlich – Sir«, erwiderte Attwood abrupt. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Die Pflicht ruft.« Er salutierte, drehte sich auf dem Absatz um, wartete nicht weiter auf Narraways Erlaubnis und marschierte zum Magazin zurück.
    Narraway fand Peterson, den dritten Mann, der zum Gefängnis geeilt war, ganz entspannt unter einem Tamarindenbaum sitzend vor. Sein Dienst fing erst in etwa einer Stunde an. Er rauchte eine Zigarre und starrte in die Ferne. Er war einfacher Soldat mit zwei oder drei Jahren Erfahrung. Als Narraway vor ihm stehen blieb und ihn mit seinem Namen ansprach, stand er hastig auf und salutierte.
    »Ja, Sir«, meldete er sich gehorsam und trat widerwillig seine Zigarre aus.
    »Immer mit der Ruhe, Gefreiter Peterson. Ich werde Ihre Zeit nicht allzu lange beanspruchen.« Narraway prüfte das trockene Gras, ob es bequem genug war. Er setzte sich vorsichtig und wartete, dass Peterson es ihm gleichtat.
    »Erzählen Sie mir von Dhuleep Singhs Ausbruch.«
    Peterson

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