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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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blieb einem vielleicht gar nichts anderes übrig, als an Gott zu glauben. Tallis war noch jung. Er hatte einen ehrenvollen Weg im Leben eingeschlagen: die Heilung anderer Menschen, manchmal sogar unter Einsatz des eigenen Lebens. Wäre er in England geblieben, ginge es ihm gut, wäre er sicher, und man würde ihn achten. Vielleicht war es sein gutes Recht, etwas von Gott zu erwarten.
    Waren das etwa seine Gedanken? Dass Gott ihm helfen würde?
    Aber warum? Gott hatte den Tausenden, die bei dem Aufstand getötet worden waren, auch nicht geholfen. Er hatte die Frauen und Kinder am Bibighar-Brunnen nicht gerettet.
    Dachte Tallis, er sei etwas Besonderes, dass ihm geholfen würde und den anderen nicht? Wie kam er darauf? Überheblichkeit? Verzweiflung? Die Unmöglichkeit, den Gedanken an den eigenen Tod zu fassen und zu akzeptieren?
    Er drehte sich wieder auf die andere Seite, dann auf den Rücken und starrte ins Dunkle.
    Woran glaubte er selbst? Worauf vertraute er? Das musste einer strengen Prüfung unterzogen werden. Sollte das nicht etwas sein, das er schon wusste, was er nicht erst suchen musste?
    Als Kind war er in die Kirche gegangen. Jeder hatte das getan. Glaubte er, was er dort gehört hatte? Glaubte er auch an den Gott, von dem sie sprachen?
    Mit einem Frösteln, als habe man ihm die Decke weggezogen, stellte er fest, dass er sich noch nie selbst so gründlich hinterfragt hatte, dass er es hätte wissen können. Was würde er heute auf die Frage antworten, ob er an Gott glaubte?
    Er war sicher nicht ungläubig. Aber an den allmächtigen Gott im Himmel, wie die Kirche ihn darstellte, glaubte er nicht. Wenn Er ein Gott für alle war, dann musste Er auch einer für die Inder, die Chinesen und die Afrikaner sein. Alles andere wäre unglaubwürdig gewesen, nicht nur wider jede Vernunft, sondern in erster Linie wider die Moral.
    Ja, an solch einen Gott wollte er glauben. Vielleicht nur deshalb, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Wenn alles sinnlos, willkürlich und ohne Liebe und Ziel wäre, dann hätte man es mit einer Leere zu tun, die er sich gar nicht erst vorstellen wollte. Da wäre kein Raum für Lachen, Schönheit oder Liebe. Es gäbe keine Hoffnung, keine Vergebung. Auch nicht für die aufopferungsvolle Fürsorge der Frauen, die selbstlos ihre Kinder schützten ohne Rücksicht auf mögliche Folgen.
    Was bedeutete Gott für ihn? Ein guter Vater?
    Gab es Gnade? Vielleicht beim Jüngsten Gericht, falls es das gab, aber im Augenblick deutete nichts darauf hin.
    Gerechtigkeit? Auch danach sah es nicht aus. Und wenn Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem vergolten würde, gab es dann beides überhaupt? Käme mehr als nur einfacher Eigennutz dabei heraus? Keine Tugend, bloß ein Tauschgeschäft?
    Diese Welt wäre hässlich, öde und voller Schrecken. Er verwarf den Gedanken. Es hätte den Untergang der Welt als Ganzes bedeutet.
    Also keine Gerechtigkeit; nur die, die der Mensch sich selbst durch sein Bemühen erschafft.
    Soweit er sich erinnerte, gab es keine Bibelstelle, die ein Leben ohne Schmerzen, Verluste, Ungerechtigkeit versprach: Das Versprechen war, dass es sich am Ende lohnen würde.
    Vertrauen? Gewiss, aber ein bedingungsloses Vertrauen, das keine unmittelbare Belohnung erwartete, ein Vertrau en, das nicht gleichzeitig eine Erklärung und einen Beweis suchte.
    War es das, woran er glaubte? Ja, vielleicht.
    Konnte er dem genügen? Das würde sich zeigen.
    Aber in seinem Kopf bildete sich ein Plan, eine Möglichkeit, die fehlenden Teile zu entdecken, die sowohl Tallis’ Tat als auch sein Schweigen erklären konnten. Die Lösung musste bei Dhuleep und Chuttur zu finden sein, es musste etwas sein, das Tallis über sie wusste, aber Latimer nicht.
    Allmählich fiel er in einen unruhigen Schlaf voller Albträume, die ihn manchmal in stechend scharfen, manchmal in vagen Bildern heimsuchten.
    John Tallis’ Verhandlung begann am nächsten Morgen. Außer den gesetzlich verpflichteten Personen war niemand anwesend. Es war Latimers Wunsch gewesen, so wenig wie möglich auf die Details einzugehen. Er saß am Kopf des Tischs mit zwei anderen Offizieren, die Narraway nicht kannte. Busby hatte an einem kleinen Tisch an der Seite Platz genommen und seine Unterlagen vor sich ausgebreitet. Narraway saß ihm gegenüber.
    Tallis saß neben Narraway. Er trug Uniform, nicht seine Sanitäterkleidung. Es gab keine sonst üblichen Handschellen oder Ketten, mit denen man ihn hätte fesseln können, dafür standen an der Tür

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