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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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eigene Zukunft zu denken, aber irgendwann einmal würde sich diese Frage aufdrängen.
    Er konnte nicht gewinnen; nur das Maß seiner Niederlage würde zählen. Manche würden ihm vorwerfen, es überhaupt versucht zu haben, auch wenn sie als Soldaten wussten, dass er nur einen Befehl ausführte, den er nicht verweigern konnte. Die Vernunft und die Einsicht würden ihn verteidigen, aber die Gefühle nicht.
    Immer wieder kam er zu plausiblen Einsichten. Er begriff nur zu gut, warum Latimer die Tat unbedingt verstehen wollte. Es ging dabei nicht nur um Moral. Ohne echtes Verständnis würden sie in Zukunft dieselben Fehler immer wieder machen. Soweit er es beurteilen konnte, waren sie vielleicht sogar jetzt im Begriff, solche Fehler zu begehen. Er musste sich Klarheit verschaffen!
    Was sah er falsch? Welche Einzelheiten übersah er? Gab es in dem Puzzle ein Teil, welches gar nicht hineingehörte? Noch vor dem morgigen Tag musste er einen Plan haben.
    Er ging alles noch einmal im Geiste durch, kam aber immer wieder zu demselben Schluss: keiner außer Tallis konnte es getan haben. Dieser hatte seine Unschuld beteuert, und selbst Busby konnte keinen Grund vorbringen, warum Tallis gewollt haben sollte, dass Dhuleep flüchtete.
    Ein Motiv für sein Handeln – das war das fehlende Teil.
    Er konnte sich einfach nichts vorstellen, das erklärt hätte, warum Tallis Dhuleep hatte entkommen lassen oder Chuttur erschlagen hatte. Eine Antwort würde auch ihn, Narraway, befriedigen, das war noch das Beste, was man dazu sagen konnte. Sein Verlangen nach einem Sinn war immer stärker geworden, nach einem höheren Prinzip, das wenigstens die gewalttätigen und chaotischen Ereignisse in Zukunft zu kontrollieren versprach.
    Außer seinem Atem und dem Gezirpe eines Insekts hörte er kein Geräusch.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Vielleicht gab die Tat deshalb keinen Sinn, weil sie anders ausging, als es Tallis beabsichtigt hatte? Wenn es um etwas ganz anderes gegangen war? Hatte er vielleicht gewusst, dass Dhuleep über Informationen verfügte, hatte er deshalb ihn und nicht Chuttur töten wollen? Die ursprüngliche Anklage gegen Dhuleep war nicht schwerwiegend gewesen, und in ein paar Tagen wäre er vielleicht ohnehin entlassen worden.
    Wie hätte Tallis das wissen können? Warum hatte er ihn dann nicht auf eine schwer nachweisbare Art und Weise umgebracht – zum Beispiel mit einem Medikament? Dann hätte es wie ein natürlicher Tod ausgesehen.
    Oder war Chuttur Singh womöglich auch ein Verräter gewesen? Zurzeit wusste niemand so genau, wer auf welcher Seite stand, die Leute schienen sie immer wieder zu wechseln. Ursprünglich hatte es überhaupt keine Seiten gegeben. Es war ein Aufstand gewesen, kein Krieg mit klar definierten Fronten.
    Aber wenn es so wäre, warum würde Tallis das jetzt nicht zugeben? War da noch ein anderer im Spiel, jemand, den er nicht verraten wollte? Gab es noch mehr Verräter, die er nicht warnen durfte? Narraway musste immer wie der an das Vertrauen denken, das Tallis ihm geschenkt hatte. Musste er sich für den Rest seines Lebens an dieser einen Niederlage messen lassen? Würde er überhaupt den Mut aufbringen, sich bedingungslos für Tallis einzusetzen, wo ihm doch gleichzeitig klar war, dass er damit zum Scheitern verurteilt war? Und, wenn alles vorbei war, wäre er dann mutig genug, bei der Hinrichtung dabei zu sein? Schließlich war er ja Tallis’ einzige Hoffnung gewesen.
    Warum zum Teufel vertraute ihm Tallis nicht die ganze Wahrheit an? Warum hoffte er dennoch, dass er ihm helfen konnte, eine Art Wunder zu vollbringen? Sie kannten sich ja nicht einmal. Narraway hatte noch nie jemanden vor Gericht verteidigt; weder hatte er Erfahrung noch war er bekannt dafür.
    Vielleicht vertraute Tallis dem britischen Recht mehr als ihm. Verdammt, wo kam er denn her, dass er nicht einmal wusste, dass überall Justizirrtümer vorkamen?
    War es bedingungsloses Vertrauen in die Engländer? Nach all den schrecklichen Gräueltaten, die bei dem Aufstand auf beiden Seiten begangen wurden, wäre das geradezu absurd. Und Tallis hatte sicherlich die Schlimmsten miterlebt. Er war Sanitäter – keiner müsste ihm erklären, was Krieg bedeutete. Er hatte alles gesehen.
    Narraway drehte sich erneut um und zog die Decke mit sich. Er fror, er war müde, und es pochte in seinem Kopf, aber an Schlaf war immer noch nicht zu denken.
    Vielleicht war Tallis gläubig? Dazu bräuchte er seinen Verstand nicht. Unter extremen Bedingungen

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