Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
Kriegs, die jungen Menschen so viel von ihrem Leben nahmen, anscheinend, ohne dass sie viel zurückbekamen. In seinen Worten fanden sich Mitleid, ironischer, verdrehter Humor, Kameradschaft, Abgründe von Einsamkeit und im Hintergrund von alldem ein Mut, der sich immer wieder neu schuf, wenn er niedergedrückt zu sein schien.
Alles, was Tallis erzählte, ließ die Möglichkeit von Narraways neuer Theorie bestehen. Kurz nach Mitternacht suchte er persönlich die Soldaten noch einmal auf, weckte sie, wenn nötig, und stellte immer wieder dieselben Fragen.
Wie war Dhuleep als Soldat? Als Mensch? Er war wohl ein Sikh, das sagte schon sein Name. Einige Sikhs waren den Briten treu geblieben, andere hatten sich dem Aufstand angeschlossen. Warum hatte Dhuleep die Seite gewechselt, und, wichtiger noch, warum hatte es niemand bemerkt?
War er schuldig für das, was ihn ins Gefängnis gebracht hatte?
»Dafür und für einen früheren Diebstahl«, hatte ihm ein müder Unteroffizier gesagt, der halb schlafend im Kasino saß. Er blinzelte Narraway besser gelaunt an, als Narraway es gewesen wäre, wenn ein ranghöherer, aber an Erfahrung deutlich unterlegener Offizier ihn um zwei Uhr morgens geweckt hätte.
»Was hatte er gestohlen?«
»Medikamente, glaube ich. Chinin oder so was.«
»Um es weiter zu verkaufen? Um es anderen zu verabreichen? Brauchte er es vielleicht für sich selbst?«
Narraway interessierte sich dafür, weil es etwas über Dhuleeps Charakter und seinen Opportunismus aussagte.
»So viel nicht!«, erwiderte der Unteroffizier mit einem schiefen Lächeln. »Weiß der Himmel, wofür er es brauchte. Er hat jedenfalls nichts gesagt. Vielleicht zum Verkaufen oder für die Aufständischen, um es seinen Freunden oder Verbündeten zu geben, oder einfach nur weil er wollte, dass wir niemanden mehr damit behandeln können.«
»Könnte Tallis da mitgemischt haben?« Das war eine Frage, die Narraway lieber nicht beantwortet haben wollte, aber er musste sie stellen. »Um sich zu bereichern?«, fügte er noch hinzu.
»Nein.« Der Unteroffizier zögerte keine Sekunde. »Tallis hat den Diebstahl schließlich gemeldet. Hätte er damit gewartet, hätten wir nicht einmal gewusst, wer die Medikamente gestohlen hatte, und wir hätten sie womöglich auch nicht zurückbekommen.«
»Dhuleep Singh wurde also wegen Tallis gefasst?«
»Ich glaube, ja. Aber Tallis hat ihn nicht selbst festgenommen. Es waren zwei Soldaten … Johnson war einer davon, und ich glaube der andere war Robinson oder Roberts oder so ähnlich.«
»Was für ein Mensch war Dhuleep vor dem Diebstahl?«
»Weiß nicht. Normal, glaube ich. Irgendwie übertrieben unterwürfig, aber als Soldat ganz gut. Zumindest machte er den Eindruck. Falls er schon mal was gestohlen hat, ist er damit davongekommen.«
»Warum gab es nur einen Gefängniswärter für Dhuleep?«
»Weil er einfach nur ein elendiger Faulenzer war, und er war ja in der Zelle eingesperrt. Wir hätten ihn wahrscheinlich gar nicht eingelocht, wenn er nicht schon einmal Medizin geklaut hätte, und dafür hatten wir ihn nicht angezeigt.«
»Danke.« Narraway stand auf. »Ich werde jetzt alle Aussagen noch mal nachprüfen. Vielleicht kommt da ja etwas Neues heraus.«
Der Unteroffizier war auch aufgestanden, ein großer Mann mit kräftigem Brustkorb. Vor Müdigkeit ließ er seine Schultern hängen. »Sie sind ein Kämpfer, das merkt man. Sie geben nie auf!«
»Nicht bevor alles ausgestanden ist«, erwiderte Narraway. Das Lob war zwar bitter, aber es tat ihm gleichzeitig gut.
Eine Stunde später hatte Narraway alles noch einmal durchgesehen, als er plötzlich auf eine Unstimmigkeit stieß, und zwar in den Aussagen von Korporal Reilly und dem Gefreiten Carpenter. Ein winziges Detail: etwas in der Abfolge der Geschehnisse, nichts, das die Sache selbst betraf. Er blickte auf seine Notizen, las sie noch einmal durch, um sicher zu sein, dass ihn nicht seine hastige Handschrift in die Irre führte.
Korporal Reilly hatte ausgesagt, dass er an der Ecke gestanden hatte, von der aus er Scott auf der anderen Seite des Hofs sehen konnte, wie er das Holz für die neue Tür in Augenschein nahm, und McLeod und Avery in der Ecke gegenüber, von wo aus sie die Gefängnistür links, hundert Meter entfernt, gut im Blick hatten.
Er sagte auch, dass Carpenter die ganze Zeit mit ihm dort gewesen war, wie das die anderen drei auch bestätigt hatten.
Aber wenn Reilly recht hatte und seine Aussage mit der von Scott
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