Der Weihnachtswunsch
des Hauses hatte sich auch im Inneren wenig verändert. Der Küchentisch aus schwerer Eiche stand noch immer da – der, um den sie an jenem Abend alle gesessen und dabei Scholokaden- und Anis-Pizzele gegessen hatten, während Kier sein Vorhaben erläuterte und sich das Ehepaar Wyss an den Händen hielt und gespannt lauschte. Sie waren aufgeregt gewesen und hatten gelächelt und gelacht. Jetzt überkam ihn die Erinnerung. Er fühlte sich, als kehre er zum Schauplatz eines Verbrechens zurück.
Estelle führte ihn ins Wohnzimmer. »Bitte, setzen Sie sich.«
Ihr freundlicher Empfang war nicht das, womit er gerechnet hatte, vor allem nicht nach seiner Erfahrung mit Grimes. »Danke.« Er setzte sich in einen geblümten Armsessel.
Estelle nahm ihm gegenüber Platz und verschränkte die Arme. »Wie geht es Sara?«
»Nicht gut. Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
Estelle wirkte aufrichtig betrübt. »Es tut mir leid, das zu hören. Sicherlich kümmern Sie sich gut um sie.«
Kier antwortete nicht.
»Ich würde gern mit ihr sprechen. Es ist so lange her. Zu lange.«
»Ich weiß, dass sie sich darüber freuen würde. Sie war sehr bestürzt über das, was geschehen ist …«
Mrs Wyss reagierte nicht auf seine Anspielung auf die Vergangenheit. »Also was kann ich für Sie tun?«
»Ist Ihr Mann da?«
»Karl ist vor vier Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch. Er war ein guter Ehemann und ein guter Mensch.« Sie blickte Kier erwartungsvoll an. »Was benötigen Sie von mir, Mr Kier?«
»Mrs Wyss, ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.«
»Wofür?«
Die Frage überraschte ihn. »Für das, was ich getan habe.«
»Und was war das?«
Sie schien es wirklich nicht zu wissen. Ihm kam der Gedanke, dass sie seine Rolle bei dem Verlust ihres Grundstücks tatsächlich vergessen hatte und dass es vielleicht besser sei, ihre Frage nicht zu beantworten. Aber vielleicht wollte sie auch einfach nur hören, dass er es aussprach. »Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass Sie Ihr Land verloren haben.«
»Ach das.«
»Die Sache ist die, dass …« Sosehr er seine Rede in Gedanken auch eingeübt hatte, ihm fehlten plötzlich die Worte. Er schaute Estelle verlegen an. »Die Sache ist die, dass ich Ihnen nicht habe schaden wollen.«
»Nein, ich vermute, dass Sie das nicht wollten. Aber noch wichtiger ist, dass Ihnen nicht daran gelegen war, es nicht zu tun.«
Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. Beide schwiegen. Schließlich fragte Estelle: »Sterben Sie?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht.«
»Also was wollen Sie dann, Mr Kier? Wollen Sie, dass ich Ihnen vergebe? Wollen Sie Wiedergutmachung leisten?«
»Ja. Beides.«
Sie nickte. »Nun, ich habe Ihnen schon vergeben, vor Jahren. Wissen Sie, ich halte nicht an dem Unrecht fest, das man mir angetan hat. Das ist nur Ballast für die Seele. Jesus hat uns ermahnt, allen Menschen zu vergeben, siebenmal sieben Mal. Nicht nur den reumütigen.« Sie senkte die Stimme. »Für Karl war es schwerer, Ihnen zu vergeben. Aber ich glaube, dass er in seinem letzten Jahr ebenfalls Frieden gefunden hat. Und was die Wiedergutmachung betrifft, so sehe ich nichts, was Sie tun könnten.«
Kier schluckte. »Es muss doch etwas geben.«
»Selbst wenn es in Ihrer Macht stünde, uns unser Land zurückzugeben, würde es mir nichts nützen. Ich wüsste nicht, was ich damit anfangen sollte. Die Zeit ist vorbei.«
»Wie ist es mit Ihrem Traum, in Italien zu leben? Ich könnte ihn Wirklichkeit werden lassen.«
»Auf Kosten von jemand anderem? Nein, das könnte ich nicht tun.«
»Nein, nein, ich verfüge über … rechtmäßige Gewinne. Ich könnte das bezahlen.«
Sie lächelte traurig. »Es gab eine Zeit, in der ich Ihr Angebot vielleicht angenommen hätte, Mr Kier, aber nicht jetzt. Ich bin zu alt, und die Ärzte haben mich zu sehr an die hiesigen medizinischen Einrichtungen gebunden. Und ohne Karl würde der Traum ohnehin nicht das sein, was er einmal war. Sie sehen also, Mr Kier, dass Sie keine Wiedergutmachung leisten können. Sie können mir mein Land nicht zurückgeben. Sie können mir meine Gesundheit nicht zurückgeben. Sie können mir meinen Mann nicht zurückgeben. Sie können mir meine Träume nicht zurückgeben. Und Sie können mir sicherlich nicht meine Unschuld zurückgeben.«
Ihre Worte überspülten ihn wie eine Welle und ließen ihn strauchelnd zurück. »Gibt es irgendetwas, was ich Ihnen zurückgeben kann?«
Sie lächelte ihn traurig
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