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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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muß man sich bewußtmachen, daß er niemals zu denken aufhört.
    Und dann ging er tiefer in die Höhle hinein, glaubte halb und halb, daß er nur noch um eine einzige Ecke biegen, nur noch unter einem einzigen tiefhängenden Felsen hindurchkriechen mußte – und da würde sie sein, voller Verlangen, mit ihm zu reden, ihn zu lieben.
     
    Wie ein Eckzahn ragte der hohe Berg aus dem Wald auf. Der Lipoca weigerte sich, die Baumgrenze zu überqueren. Francis stieg ab und band das schwergeprüfte Tier an einem Zweig fest. Er stopfte Feuermoosklumpen in seinen Mantel, hing als Gewichtsausgleich eine Laterne in die andere Tasche, fand einen abgestorbenen Zweig, ernannte ihn zum Stock und begann Schritt für Schritt den Abstand zwischen sich und der Sonne zu verringern.
    Am späten Nachmittag hatte er einen Gipfel erreicht, mit pochenden Waden und Lungen, die sich wie ausgeschürft anfühlten. In der Ferne lag seine Belohnung, die sonnenhelle Pyramidenstadt Cuz. Von einer Fußbrücke überspannt, gähnte ein Abgrund wie ein wütender Prolog zu der eingeschneiten Stadt. Eine Fußbrücke – ausgezeichnet! Hier würde er warten.
    Er stapelte sein Feuermoos auf dem Boden auf, hielt ein brennendes Streichholz daran. Iztac-grüne Flammen schossen in die Höhe, sanken dann zu pulsierender Glut herab. Er schaute nach Westen. Zwischen zwei Bergen winkte der Tolca-Tempel herüber, der sich an seinem heiligen Fluß erhob. Schnee krönte das Tor der nördlichen Zugbrücke.
    Francis legte sich nieder. Der Gedanke, daß er so weit gekommen war, erwärmte ihn nicht weniger als das Feuermoos. Er hatte sich dieses Schläfchen doppelt verdient.
     
    Dichte Schatten klammerten sich an die Berge, als Francis erwachte. Eine Gloriole im Norden erzählte, daß es Cuz nicht an Brennstoff mangelte. Er blickte zur tiefstehenden Sonne, sah einen weiteren kompakten Schein nahe der Baumgrenze. Tez’ Lagerfeuer. Er blinzelte. Nein. Dafür war es zu groß. Er blinzelte noch einmal. Eine Hütte.
    Schneeschauer folgten ihm den Berg hinab. Seine Öllaterne zeigte ihm einen klaren, hellen Weg zum Baum des Lipocas. Aber da war kein Lipoca. Der falsche Baum? Blaue Schleier rauschten ihm entgegen wie Lava.
    Er hielt die Laterne hoch, inspizierte den Stamm. Steif von gefrorenem Speichel hing ein Strick an einem Zweig, mit einem abgebissenen Ende.
    Heulend lachte der Sturm ihn aus. Er stellte die Laterne ab, zog den Kragen hoch, um seine schmerzenden Ohren zu schützen. Allmählich erwärmten sie sich. Das Essen weg, das Gepäck weg. Es wäre Wahnsinn, jetzt nach Cuz aufzubrechen. Wo war die verdammte Hütte? Im Nordwesten? Er marschierte in die kreischende Nacht.
    Zwei Stunden lang kämpfte er gegen das peitschende Blau an, das Tentakel zu besitzen schien. Und dann strahlte ihm ein großes, freundliches Elmsfeuer entgegen. Francis ignorierte den Wind und begann zu laufen, trat die Schneewehen beiseite, bevor sie ihn einsaugen konnten. Er erreichte eine massive Eichentür und schlug mit der Handfläche dagegen.
    Die dicke Frau, die ihm öffnete, war genau das, was Francis brauchte – ein fröhliches Gesicht, ein nettes Lächeln, das ihm sagte, daß er gerade rechtzeitig zum Tee käme. Sie war weit über vierzig doch das schien ihr nichts auszumachen.
    »Ich gehe nach Cuz«, sagte er.
    »Aber heute nacht nicht mehr. Gleich wird ein Blizzard losbrechen.« Sie führte ihn durch ein unscheinbares Wohnzimmer in eine geräumige Küche mit einem Feuermoosherd. »Setzen Sie sich. Möchten Sie Tee?«
    »Ja, bitte.« Francis löschte seine Laterne und sank in einen Ledersessel. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene handgebundene Ausgabe von »Geschichten des Id« und verriet ihm, daß die Frau gerade gelesen hatte.
    »Ich hätte auch heiße Schokolade.«
    »Ein Tee wäre mir lieber.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wußte er, daß er heiße Schokolade bevorzugt hätte. Aber er wußte auch, daß er Tee gewollt hätte, wäre seine Wahl auf heiße Schokolade gefallen. Er mußte über sich selbst lachen. Es war schön hier.
    Sie stapfte zum Herd und nahm zwei Tassen von den Haken. »Sind Sie auf dem Heimweg? Wollen Sie den Feiertag zu Hause verbringen?«
    »Ich bin Francis Lostwax. Sagt Ihnen das irgendwas?«
    »Ja – daß man sich in der Schule über Sie lustig gemacht hat.« Dampf zischte aus ihrem kleinen Kessel. Sie hängte zwei Teebeutel in die Tassen, goß Wasser über den einen.
    »Ich bin auf der Nerde zur Schule gegangen. Und auf der Nerde ist das kein

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