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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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dahin widerfahren war. Vor einem Jahr um diese Zeit hatte seine Hauptsorge der Frage gegolten, ob er ins Bordell weiter unten an der Straße gehen oder fünfundvierzig Dancs für einen Neudruck von >Das geistige Wesen der Bohnenlaus< ausgeben sollte. Das war natürlich kindischer Kram im Vergleich zu jenen Augenblicken, als er beobachtet hatte, wie zwei Freunde gefressen worden waren, als man ihm den Schädel aufgesägt und als er sich in eine Frau von einem anderen Planeten verliebt hatte. Es verwirrte ihn, daß er immer noch geistig normal war, und es verwirrte ihn noch mehr, daß er die Bereitschaft zu weiteren Abenteuern verspürte.
    Tez zog einen Spiegel aus ihrer Robe und hielt ihn vor Francis hin. Er sah, daß sein Kopf direkt oberhalb der ursprünglichen Wunde zusammengeklebt war wie zwei Teile eines epischen Films. Die Verbindungsstelle, ein gelber Kleisterstreifen, umgab seinen Schädel wie ein Hutband. Er strich darüber.
    »Vorsicht!« ermahnte sie ihn.
    »Sind da keine Stiche?«
    »Murm ist besser. Ihre Inzision wird nicht im konventionellen Sinn verheilen. Sie wird sich verfestigen wie Paraffin.«
    »Murm…« Francis sang das Wort.
    »Das ist die wundersame Magenschleimhaut eines sonst nutzlosen Tieres namens Chitzal. Es nährt ihren Kopf wie Blut, befeuchtet Ihre Dura Mater und muß nur einmal im Jahr erneuert werden.«
    »Sie meinen – der Kleister dringt bis unter die Knochen?«
    Tez nickte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Schädeldecke und die Dura sind permanent voneinander getrennt. Wenn IhreLiebste Sie zu fest an den Haaren zieht, wird vielleicht Ihr Gehirnbloßgelegt, aber sie wird keine Arterien durchtrennen.«
    Francis schnappte nach Luft. Ist das Wissenschaft? fragte er sich. Was machen die denn hier, wenn sie zaubern?
    »Sie haben angedeutet, daß mein Haar wieder wachsen wird.«
    »Dichter denn je, und genau dann, wenn Sie es satt haben, beim Rasieren diese häßliche Narbe sehen zu müssen.«
    Tez zog an der Türschnur, dann hielt sie inne, drehte sich um, und es gelang ihrem Lächeln nicht, ihr Erröten zu überspielen. »Ich weiß, dieses Erlebnis war ungeheuerlich für Sie, Francis Lostwax, aber Sie werden für Ihre Chitzal-Narbe eine Verwendung finden, von der Sie niemals zu träumen gewagt haben.«
    Und dann war sie verschwunden, noch bevor er sie nach dem Sinn dieser Prophezeiung fragen konnte.
     
    An diesem Nachmittag des Tolcatags – nach dem »makellosen Kalender«, wie ihn Mool bezeichnet hatte – brachte Tez weder Spiegel, Epen, Opos noch Spiele mit, sondern statt dessen einen kräftigen Mann, den Francis kannte. Es war Zamanta, dessen Kinder Burne vor dem sicheren Tod durch die Krallen der Neurovoren gerettet hatte. Zamantas Frau, zierlich im Körperbau, aber selbstbewußt in ihrer Haltung, mit wilden Augen und chaotischem gelbem Haar, stand lächelnd an seiner Seite.
    »Wir wollen uns bedanken«, sagte Zamanta. »Momictla und ich.«
    »Da müßten Sie zu Burne gehen«, wehrte Francis bescheiden ab.
    »Auch ich weiß zu schätzen, was er getan hat«, erklärte Zamanta. »Nur das Resultat.«
    »Nun ja, ich bin auch nicht gewalttätig veranlagt, aber wenn ich die Möglichkeit dazu hätte, würde ich diesen Barbaren die Eingeweide aus den Leibern reißen. Sie haben zwei meiner…« Er wollte sagen »Kollegen«, fühlte jedoch eine plötzliche Leere in seinem Innern. »… zwei meiner besten Freunde abgeschlachtet.«
    »Sie halten mich für einen Feigling, nicht wahr?« fragte Zamanta.
    Francis entgegnete darauf nichts und starrte zum Chimec-Hospital hinüber, einem großen, pyramidenförmigen Terrassenbau. An der Spitze funkelte ein Tempel aus massivem Gold im Sonnenlicht.
    Momictla berührte Tez’ Arm. »Er ist geheilt, nicht wahr?«
    Tez nickte. »Wir werden ihn morgen entlassen.«
    »Oh, es geht mir gut«, warf Francis phlegmatisch ein.
    Ringsum gingen postoperative Patienten aufeinander zu, um sich zu unterhalten, miteinander zu spielen oder sich gegenseitig zu bemitleiden. Zweifellos würden sie sich alle sofort um Francis scharen, wenn ihnen irgend jemand verriete, daß er der berühmte Besuch aus dem Weltall war.
    »Wenn wir Ihnen irgendeinen Gefallen tun können«, sagte Momictla. »Sie brauchen uns nur zu fragen.«
    »Ich werde daran denken.« Seine Stimme war immer noch tonlos. In seiner Nähe versuchte ein munteres kleines Mädchen mit einer Bandage über einem Auge, dem Chitzal das Leben schwerzumachen. Sie jagte ihn einen Baum hinab, über eine Brücke, um

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