Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
des Erträglichen hinaus, und die Maßlosigkeit ihres Zorns überraschte
ihn. Bis sie schließlich einschlief und für einige Zeit – für ein paar selige
Stunden – Ruhe herrschte.
Am Morgen zog sich Thomas an, denn er glaubte, daß er persönlich
hingehen sollte, daß dies nicht schriftlich abgehandelt werden durfte. Seine
einzige theatralische Geste bestand darin, die Briefe unter seinen Manuskripten
hervorzuholen und sie einzustecken.
Es war die traurigste Fahrt seines Lebens. Sie saß an einem Tisch
vor einem Café, als er ankam. Vielleicht hatte sie Stunden dort gesessen.
Einfach gewartet und geraucht. Vor sich eine unberührte Tasse Tee. Ihre Haut
war fleckig, ihr Haar ungekämmt, ihr Gesicht ungewaschen. Zweifellos hatte sie ebenfalls
häusliche Szenen hinter sich.
»Warum?« fragte er.
Sie konnte ihm nicht antworten.
»Es muß aufhören«, sagte er. »Ich habe keine Wahl.«
Es war nicht nötig zu erwähnen, daß Regina schwanger war, denn das
war ihr in seiner Abwesenheit am Abend zuvor eröffnet worden. Es war nicht
nötig zu erwähnen, daß Linda verraten hatte, daß sie ihn liebte, denn auch das
war Regina am Abend zuvor gesagt worden. In seiner Abwesenheit. Und es war oft
genug von Reginas schriller Stimme wiederholt worden, als sie durch den Raum
tobte.
»Ich werde immer …«, begann Thomas. Aber er konnte den Satz nicht
beenden.
Dann ertönte ein lautes Donnern – wie der Gongschlag eines Narren
bei einer Aufführung bei Hof (jetzt aufgepaßt!), und der Regen setzte ein, eine
plötzliche Sintflut, die Tausende, nein Hunderttausende von Spannungsknoten
löste. Der Regen war warm, fast heiß, der Sonnenschirm des Cafés klappte zu und
gab ihnen keinerlei Schutz mehr. Linda weinte, ohne sich zu schämen. Er legte
die Briefe auf den Tisch, schob sie unter ihre Hand.
Er zwang sich, wegzugehen, und dachte im Gehen: Das war das
Schlimmste, was ihm je widerfahren würde; nichts würde ihm je wieder so weh
tun.
TEIL DREI
Siebzehn
SIE STEHT IN DER OKTOBERKÄLTE am
Rand der Mole. Der Mond hoch am Himmel ist so hell, daß sie ein Buch lesen
könnte. Die Jungen hinter ihr sind still und können ihr Glück nicht fassen.
Einer von ihnen sagt »tu’s nicht«, aber sie weiß, er möchte, daß sie es tut,
daß er nicht anders kann. In einem Lichtkegel blitzt das Wasser auf, und sie stellt
sich vor, bis zum Horizont zu schwimmen. Sie tritt an den Rand, und kurz darauf
springt sie mit einem perfekten Kopfsprung ins Wasser.
Der Ozean schließt sich über ihr, das Wasser umgibt sie wie Seide,
ein Satz, den sie später dem Jungen sagen wird, der »tu’s nicht« gerufen hat.
Sie spürt das Salzwasser in ihrer Nase, in ihren Augen. Sie schwimmt weit von
der Mole fort, bevor sie wieder auftaucht, und genießt die klare See, obwohl
sie weiß, daß auf dem Grund vielleicht Schuhe, Scherben, alte Reifen und
ausgeleierte Unterhosen liegen.
Gleich wird sie wieder auftauchen, und sie wird in der Ferne das
Johlen und die bewundernden Rufe der Jungen hören. Aber im Moment gibt es nur
die Klarheit und die Dunkelheit, eine perfekte Kombination.
Sie wird für Jahre fortgeschickt. Das Wort Schlampe wurde durch einen Raum geschleudert und traf sie wie ein Steinschlag.
Eine Tante, die zu bald wiederkam und das Mädchen und den Mann ankreischte, der
sich hastig verkrümelte wie ein Käfer. Voller Zorn und Selbstgerechtigkeit geht
die Tante mit fuchtelnden Armen auf sie los, schreit Hure und
dann wieder Schlampe und undankbar und Miststück. Worte, die nachklingen wie
Glockenschläge.
Der Ort, an den man sie schickt, ist schön und schrecklich
zugleich. Ein Haus, das über dem Meer steht. Das Rauschen der Brandung ist
beständig und beruhigend, eine Art flüsternd grollende Gleichgültigkeit. Das
Haus ist höhlenartig und wird von anderen Mädchen bewohnt, die man auch »Hure«
und »Schlampe« nennt. Sie wohnen in kleinen Zimmern und gehen in die
katholische Mädchenschule um die Ecke, aber das Zentrum ihres Lebens ist die
Wäscherei. Im Keller des Hauses stehen hundert Bottiche und Waschmaschinen, und
wenn die Mädchen nicht anderweitig beschäftigt sind – zur Schule gehen,
schlafen, essen oder bei seltenen Gelegenheiten fernsehen –, waschen sie die
Wäsche. Mädchen wie sie, mit heißen Gesichtern und von Wasser und Lauge
geröteten Händen, waschen die Wäsche der Reichen und die der Bedrängten:
Leinenlaken und rechteckige Tischtücher, Oxford-Hemden und Kleider mit Gürteln,
Strampelhosen und
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