Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Tischecke stieß ihn in die Nieren, und er
dachte, irgendein Zorn mußte sie anfeuern, denn sie war nicht wie sonst, war
hemmungsloser, von einer Hemmungslosigkeit, die aus Zorn entstehen kann, und
tatsächlich war es ihm genauso ergangen, als er sich von der Gruppe abgewandt
hatte. Nicht mehr als eine Sekunde hielt er inne, um sich zu fragen, was
Regina, Peter und Roland wohl dachten. Sie waren nicht wichtig. Jetzt nicht.
Dies hier war alles, was zählte, wenn es für den Rest seines Lebens reichen
sollte. Und verdammt , es müßte für den Rest seines
Lebens reichen. Und sie sagte, oder er sagte: ›Ich liebe dich‹, wie Liebende es
tun, obwohl er wußte, daß die Worte abgenutzt waren – (hatte er sie zu Regina
nicht gesagt? oder sie zu Peter?) – und nicht erklärten, was ihr Zusammensein
ausmachte, für das er nur ein Wort kannte, ein Wort, das so banal wie
bedeutungsvoll war und sich endlos in seinem Kopf wiederholte: ›Das‹, dachte
er, ›das.‹
Und dann wieder: ›Das.‹
Sie lagen im schmutzigen Dunkel des Büros. Er spürte
zusammengeknüllte Kleider an seinem Kopf, und der Absatz eines Schuhs stach in
seinen Schenkel. Ihre nackten Hüften waren zwischen einem Tischbein und einem
Stuhl eingeklemmt. Vielleicht schafften sie es nicht mehr, sich zu befreien,
und müßten warten, bis sie gefunden wurden. Sie suchte nach seiner Hand und
verschränkte ihre Finger mit den seinen, und diese Geste, das langsame
Verschränken der Finger und die Art, wie sie ihre beiden Hände auf den Boden
sinken ließ, sagte ihm, daß sie Bescheid wußte. Daß sie wußte, daß es das
letzte Mal war. Nichts, was die Geste ausdrückte, mußte ausgesprochen werden.
Oder vielleicht war er nur zu erschöpft, um Worte zu finden.
Sie stand auf und suchte nach ihrem Kleid. Er beobachtete, wie sie
ihren komplizierten BH anlegte, den Reißverschluß
des arg zerknitterten Leinenkleids schloß, die Schuhe überstreifte – es war die
Umkehrung der Liebe, die Umkehrung der Erwartung. Und für einen Moment, den er
sein Leben lang nicht vergessen würde, kniete sie sich nieder, beugte sich über
sein Gesicht, und während ihr Haar sie wie Vorhänge einhüllte und ihnen höchste
Intimität gewährte, sprach sie, in seinen Mund flüsternd, aus, welch
unverzeihliche Tat sie soeben begangen hatte.
Es hätte eine Beichte sein können.
Roland hatte den Arm um Regina gelegt. In einer Ecke redete ein
verwirrter Peter auf Linda ein, die sich abgewandt hatte. Gäste gingen,
beiläufig, normal, ohne von der Katastrophe etwas mitzubekommen – oder falls
doch, hatten sie nur einen Seitenblick, ein Gaffen dafür übrig. Diese
Geschichte wäre unterhaltsam und würde in das Pantheon der Geschichten
verbotener Lieben in Kenia eingehen, eine Fußnote zu den Zeiten des Happy
Valley. Oder nicht einmal das. Vielleicht hätte man sie schon vor dem letzten
Drink des Abends vergessen, weil die Hauptpersonen nicht prominent genug waren,
um so viel Aufmerksamkeit zu rechtfertigen.
Er hatte das große Drama verpaßt.
Am Ende – seltsamerweise, aber vielleicht erwartungsgemäß – spürte
er es in seiner Seele. Er, der gedacht hatte, er habe keine; eine Vorstellung,
die er nicht einmal benennen konnte. Es war ganz einfach: Er konnte nicht
zulassen, daß Regina das Kind verlor.
Auf der Straße begann Regina zu schreien, und im Wagen warf sie sich
von einer Seite zur anderen, prallte gegen die Tür und wollte wissen, ob er mit
Linda geschlafen habe. Und wie oft? Sowohl auf seine Antworten wie auf sein
Schweigen reagierte sie mit Schreien. Sie wollte Daten und Details wissen,
entsetzliche Einzelheiten, die er ihr nicht sagen konnte. Zu Hause warf sie
sich gegen eine Wand. Er versuchte, sie zu beruhigen, sie zu berühren, aber sie
war außer sich und hatte trotz ihrer Schwangerschaft ziemlich viel getrunken.
Sie übergab sich im Badezimmer und wollte einerseits, daß er half, andererseits
wünschte sie, er wäre tot. Und die ganze Zeit dachte er: Ich kann nicht
zulassen, daß sie das Baby verliert.
Er schüttelte seine Frau, um ihre Hysterie zu beenden. Wie einem
Kind sagte er ihr, daß sie ins Bett gehen mußte. Sie wimmerte und flehte ihn
an, sie festzuhalten, was er tat, und er nickte ein paar Sekunden ein, nur um
von neuem Geschrei aufgeweckt zu werden. Von Zorn, Anklagen und Drohungen. Sie
würde sich umbringen, sagte sie, und er hätte zwei Leben auf dem Gewissen.
Stundenlang ging das so weiter, scheinbar bis über alle – ihre oder seine –
Grenzen
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