Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
hatte, überkam sie
plötzlich das Gefühl, im Kaufhaus sei es stickig. Sie roch Chemikalien in den
Stoffen, die schwadenweise Männerhemden entströmten, als sie floh. Was hatte
sie getan? Sie hatte eine Familie gegründet. Man würde sich nicht an sie
erinnern. Sie kam von Tag zu Tag weiter herunter. Sie konnte ihren Körper nicht
mehr zeigen. Sie würde nie unbekleidet an einem Strand sitzen. Gewisse Dinge
waren nicht zurückzugewinnen. Sogar ihre Erinnerungen an Vincent wurden
schwächer: Auf Fotos war er inzwischen gegenwärtiger als vor ihrem geistigen
Auge, wie bei Kindern, nachdem sie groß geworden waren.
Sie ging hinaus, überaus bewußt, eine Frau in mittleren Jahren zu
sein, die trotz der Hitze einen vernünftigen Regenmantel trug. Als wären sie
programmiert worden, drehten sich keine Männer nach ihr um. Vincent hingegen,
ihr Bewunderer, ihr Geliebter, hatte sie sogar am Morgen, als er starb, noch
als schön bezeichnet.
»Du bist schön«, hatte er gesagt.
»Ich bin fünfzig. Niemand ist schön mit fünfzig.«
»Du überraschst mich. Natürlich hast du unrecht.«
Erstaunlich, wie sehr man sich danach sehnte, als schön bezeichnet
zu werden, wie allein das Wort bezaubern konnte. Sie sah ein Paar in teurer
Kleidung, das sich im Gehen stritt. Er hatte blondes Haar und einen Bart und
ging ein Stück vor der Frau, die ärgerlich gestikulierte und sagte: »Ich kann
nicht glauben, daß du das gesagt hast.« Er behielt die Hände in den Taschen und
antwortete nicht. Er würde bei dem Streit gewinnen, dachte Linda.
Sie stand vor einem Gebäude mit gotischen Türmchen und geschwärzten
Steinen, aber sie war wie immer nicht in der Lage, eine katholische Kirche nur
als Gebäude anzusehen. Ihre Unverfälschtheit wirkte anziehend angesichts des
ausschweifenden Übermaßes der schicken Boutiquen zu beiden Seiten. (Aber waren
die Türmchen nicht auch ein Ausdruck von Übermaß?) Sie betrat eine muffige
Vorhalle und erinnerte sich, daß sie als Kind nicht hatte glauben wollen, daß
der Geruch schlicht das Ergebnis von Staub und Moder war. Sie hingegen war
überzeugt, daß das Becken mit Weihwasser für diesen irgendwie beklemmenden Mief
verantwortlich sein mußte. Einen Augenblick lang war es ihr peinlich, die Messe
zu stören (sie, die nur samstags zur Beichte in die Kirche ging), und sie begab
sich leise in eine der Bankreihen, ohne die Knie zu beugen, ohne sich zu
bekreuzigen, obwohl ihr Körper dies gewohnheitsmäßig tun wollte.
Das Innere der Kirche kühlte den Schweiß in ihrem Nacken. Sie ließ
den Mantel von den Schultern gleiten und war froh, keine raschelnden Tüten
dabeizuhaben. Es war noch nicht so lange her, daß ihr die Worte fremd geworden
wären, dennoch lauschte sie der Liturgie mit einem gewissen heimlichen Staunen.
Und während sie das tat, kam ihr ein ebenso einleuchtender wie bestürzender
Gedanke: Ihre eigenen Gedichte imitierten diesen Sprechrhythmus. Warum war ihr
das nicht schon früher aufgefallen? Warum hatte dies kein anderer, ein Kritiker
etwa, ebenfalls bemerkt? Die Ähnlichkeit im Rhythmus konnte einem doch nicht
entgehen. Es war eine verblüffende Entdeckung, als fördere man einen Brief
zutage, der einem endlich die eigene Kindheit erklärte.
Eine ältere Frau vor ihr weinte hemmungslos (welcher Kummer oder
welche Sünde hatte diesen Tränenstrom verursacht?), aber Linda konnte die
Gesichter der anderen Gemeindemitglieder nicht sehen, die etwa zehn Reihen vor
ihr saßen. Sie sprach ein schnelles Gebet für Marcus, der es am meisten
brauchte, und als sie fertig war, sah sie zu den dunklen Mosaikfenstern hinauf
(es gab so wenig Sonnenlicht zwischen den hohen Gebäuden auf beiden Seiten) und
versuchte, Maria Magdalena zu finden. Sie fand Johannes den Täufer und ein Bild
des Letzten Abendmahls, aber nicht die Frau, nach der sie suchte.
Maria salbte die Füße Jesu.
Daraufhin, wie fast immer, wenn sie früher in der Kirche war, ließ
sie ihre Gedanken schweifen. Und mit dem Schweifenlassen stiegen Bilder auf.
Als sie ein Mädchen war, hatten die Bilder etwa mit dem Kirschbaum im Hinterhof
angefangen, waren dann zu einem Glas mit Kirsch-Cola übergegangen, um
schließlich bei Knien und Beinen eines Jungen zu enden, den sie, mit einer
Lederjacke bekleidet, im Schnellimbiß eine Kirsch-Cola hatte bestellen sehen.
Aber an diesem Nachmittag sah sie Gesichter (die von Vincent und Thomas), dann
zerwühltes Bettzeug (von ihr und Vincent an dem Tag, als er gestorben war),
dann ein kleines
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