Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
verdrängt hatte, bis Worte – besänftigende und
tröstliche Worte – ihr gestatteten, sich zu beruhigen. Es war nicht von ihr
ausgegangen, sagte sie sich. Und es hatte ihr Leben nicht zerstört. Das Leben
war mehr als Mißbrauch in der Kindheit, mehr als kindliche Siege. Leben war
Arbeit, einen Menschen zu lieben und Kinder zu bekommen; Leben waren Vincent,
Marcus und Maria. Aber sobald sie Maria dachte,
begann Linda wieder zu zittern. Aus dem Blickwinkel einer Mutter war die
Geschichte unentschuldbar und furchterregend. Sie brauchte sich nur Maria auf
der Bettcouch vorzustellen und wurde von Zorn gepackt. Neben ihr kamen Leute
den Mittelgang hinunter, einige sahen in ihre Richtung. Die Messe war vorbei,
und sie hatte es nicht bemerkt.
Sie holte tief Luft und ließ sie langsam ausströmen. Vincent war das
Gegenmittel für die Erinnerungen gewesen. Verlor sie ohne ihn jetzt diesen
Schutz? Und warum diese beschämenden Bilder nach so langer Zeit?
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, brauchte etwas zu essen und
eine Tasse Tee, aber der Anrufbeantworter blinkte. Auf der Bettkante sitzend,
immer noch im Mantel, überlegte sie sich Fragen und mögliche Antworten: ›Wie
ist deine Podiumsdiskussion gelaufen? Abendessen? Bist du sicher? Glaubst du,
es würde den anderen etwas ausmachen?‹ Aber als sie die Nachricht abhörte, war
sie nicht von Thomas, sondern von David, Marcus’ Liebhaber, und er bat sie,
zurückzurufen, wenn sie wieder zu Hause wäre. Der anstehende Kummer eines
anderen machte sie nervös, sie verwählte sich zweimal, sagte Mist , bevor sie die richtige Nummer hatte. Wie lange war
sie unterwegs gewesen? Eine Stunde? Zwei Stunden?
»Marcus wurde wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen«, sagte der
Liebhaber ohne Einleitung.
Linda beugte sich vor, als hätte sie nicht richtig gehört. »Wann?«
»Heute, früh am Morgen. Gegen fünf.«
Instinktiv sah Linda auf ihre Uhr. Sie hatten zwölf Stunden
gewartet, bevor sie sie informierten.
»Und es gab einen Unfall«, fügte David hinzu.
»O Gott«, sagte Linda, unfähig, Worte mit mehr als einer Silbe
herauszubringen: »Ist er verletzt?«
»Er hat sich das Knie ziemlich schlimm angeschlagen. Er wurde
geröntgt. Sie sagen, er hat sich einen Knorpel gequetscht.«
»Wurde sonst jemand verletzt?« fragte Linda schnell und fürchtete
sich schon vor der Antwort.
»Nein.«
Sie seufzte erleichtert auf. Wenn man bedachte, daß sie erst kurz
zuvor ein Gebet für Marcus gesprochen hatte. »Ist er da? Kann ich mit ihm
reden?«
Die absichtliche Pause am anderen Ende war nicht mißzuverstehen. Sie
stellte sich David vor – genauso groß wie Marcus, aber kräftiger; rötliches
Haar und blasse Augen; weich in den Konturen, obwohl seine Anzüge hervorragend
geschnitten waren –, wie er in der Küche des Appartements in Brooklyn stand.
Oder war er mit ihrem Sohn im Schlafzimmer?
»Mrs. Fallon«, sagte David (David, der unfähig zu sein schien, sie
Linda zu nennen, obwohl sie ihn mehrmals dazu aufgefordert hatte; David, der
gesagt hatte, sie könne keine Lyrik vortragen, hoffe aber, sie würde ihm das
nicht verübeln), »ich glaube, Marcus und ich müssen das allein durchstehen.«
Nach dieser Abfuhr schwieg Linda.
»Natürlich«, fügte David schnell hinzu, um den Schlag zu mildern,
»gebe ich Ihnen sofort Bescheid, wenn die Sache mit dem Knie schlimmer wird.«
Linda war überrascht, daß sie nicht gereizter reagierte.
»Und ich glaube«, fuhr David nach einer weiteren Pause fort, »ich
glaube, wir müssen in Erwägung ziehen, daß Marcus einen Entzug macht.«
»Entzug? Sie meinen, weil er betrunken war? Ist das wirklich nötig?«
»Ich fürchte schon. Marcus hat seit Tagen getrunken. Er hat mein
Konzert gestern abend verpaßt. Er war ohnmächtig und kam erst wieder zu sich,
als ich nach Hause kam. Wir haben uns schrecklich gestritten, und er ist
abgehauen. Heute morgen hat er mich aus dem Gefängnis von Nashua angerufen.«
»Nashua? New Hampshire? Was hat er dort denn gemacht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er das weiß.«
O Marcus, dachte Linda. Ach, mein armer, armer Marcus. Sie hatte ihn
an Thanksgiving betrunken erlebt und an Weihnachten wieder, aber sie hatte es
nicht wirklich ernst genommen. Oder sich einfach geweigert, es wahrzunehmen?
»Denken Sie an eine umfassende Therapie, die die Familie mit
einbezieht, an eine Intervention? Ist das der Ausdruck dafür?«
»Ich glaube nicht, daß das nötig ist«, sagte David nachdenklich,
womit er
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