Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
schien nicht in der Lage zu sein, das Bild anzusehen,
obwohl die abgeschabten Ecken von häufigem Anfassen zeugten.
    Thomas sah zu ihr hin, dann schnell wieder weg, als wäre jetzt sie
diejenige, die für sich sein mußte. Die Cheeseburger kamen, ein monumentales
Nichts. Sie reichte Thomas das Foto zurück.
    »Sie war sehr intelligent«, sagte Thomas. »Nun, das behaupten alle
Eltern, nicht wahr. Und vielleicht haben sie recht. Verglichen mit uns, meine
ich.«
    Der Appetit war ihr vergangen. Die Cheeseburger sahen widerlich aus
in dem Fettsee, der die Papierteller aufweichte.
    »Sie konnte stur sein.« Thomas lächelte über eine Erinnerung, die er
nicht mitteilte.
    »Und ungewöhnlich tapfer. Sie weinte nie, wenn sie sich verletzt
hatte. Obwohl sie durchaus quengeln konnte, wenn sie etwas haben wollte.«
    »Das tun alle Kinder.«
    Thomas aß seinen Cheeseburger und hielt dabei seine Krawatte fest.
Nun, er mußte ja schließlich essen, dachte Linda. Sonst wäre er schon vor
Jahren verhungert. Er sah auf ihren unberührten Teller, sagte aber nichts.
    »Sie war eine gute kleine Sportlerin«, sagte Thomas. »Ich setzte
mich immer auf einen Gartenstuhl und sah ihr beim T-Ball-Spielen zu. Die
meisten Kinder waren im Außenfeld und pflückten Löwenzahn. Einige setzten sich
einfach hin.« Er lachte.
    Linda lächelte. ›An die kann ich mich erinnern. Jemand schlug einen
Ball ins Aus, und alle Kinder liefen los, um ihn zu holen.‹
    »Sie sagen, es habe weniger als eine Minute gedauert. Das Ertrinken.
Ein Kind schluckt schneller Wasser als ein Erwachsener. Außerdem bestand
durchaus die Möglichkeit, daß sie einen Schlag erhalten hatte und bewußtlos
war. Ich habe Jahre damit verbracht zu beten, daß es so war. Daß sie einen
Schlag erhalten hat und nicht ertrunken ist. Erstaunlich, nicht wahr? Viele
hundert Stunden von Gebeten, nur um ihr diese eine Minute zu ersparen.«
    Keineswegs erstaunlich, dachte Linda. Sie hätte das gleiche getan.
    »Der Gedanke, ich würde allmählich vergessen, ist schrecklich«,
sagte er. »Und dennoch tue ich es. Ich erinnere mich nicht mehr an so viele
Einzelheiten wie früher. Ich weiß noch nicht einmal, woran ich mich nicht mehr
erinnere.«
    Daraufhin berührte sie seinen Arm. Es wäre unmenschlich gewesen, es
nicht zu tun. »Es gibt einfach keine Worte dafür, Thomas.«
    »Nein, die gibt es nicht, und ist das keine Ironie? Wir, die wir
glaubten, alle Worte zu haben. Jean mit ihrer Kamera hat uns bedeutungslos
gemacht.«
    Ein Motorboot mit einer jungen blonden Frau am Steuer raste um die
Ecke. Das Bewußtsein der eigenen Schönheit und der erste warme Tag im Jahr
schienen das Mädchen vor Freude übersprudeln zu lassen.
    Thomas beugte den Kopf leicht nach vorn. »Kratz mich zwischen den
Schultern«, sagte er.
    Auf dem Weg zur Fähre ging Thomas, entweder weil ihm
ungewöhnlich warm war oder weil er sich reinwaschen wollte, ins Wasser. Linda
saß auf einem kleinen Hügel und beobachtete, wie er eintauchte und sich wieder
erhob, schwankend wegen des Kälteschocks. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund
und zog seine Boxershorts zur Taille hinauf. Sie hingen weit über die Schenkel
hinab, als er herauskam, und zeichneten seine Genitalien ab, die im Lauf der
Jahre länger geworden waren.
    »Es ist wie eine Elektroschocktherapie«, sagte Thomas, als er sich
mit seinem Hemd abtrocknete.
    Er fröstelte auf der Fähre, trotz Jacke und Mantel. Später erfuhren
sie, daß der See verseucht war. Sein Hemd hatte er zu einem Knäuel
zusammengeballt. Sie stand dicht neben ihm, um ihn zu wärmen. Aber das Frösteln
kam tief aus seinem Innern und wollte nicht nachlassen. Die neugierigen Blicke
auf dem Boot und am Hoteleingang schien er nicht wahrzunehmen. Sein Haar war
durch das Wasser und vom Wind auf der Fähre zu einem komischen Gebilde auf
seinem Kopf getrocknet. Er stieg in ihrem Stockwerk aus, begleitete sie zu
ihrem Zimmer und sah für alle Welt wie ein Überlebender einer Katastrophe aus
(und das war er auch, dachte sie). Er stand an der Tür und kämmte sich mit den
Fingern durchs Haar.
    »Ich werde dich nicht hereinbitten.« Sie meinte das scherzhaft, als
hätten sie ein Rendezvous gehabt. Aber Thomas nahm es, wie immer, ernst.
    »Was kann es schaden?«
    »Was es schaden kann?« fragte Linda ungläubig.
    »Die Vorgeschichten«, sagte er. »Findet das hier unabhängig von dem
Gewesenen statt, oder nur aufgrund des Gewesenen?«
    »Aufgrund dessen, was vorher war, glaube ich.«
    Er sah sie

Weitere Kostenlose Bücher