Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
eindringlich an. »Was für ein großes Drama wird uns
deiner Meinung nach diesmal trennen?«
    »Es muß überhaupt kein Drama geben, Thomas. Wir sind zu alt für
Dramen.«
    Er wandte sich zum Gehen und hielt dann inne. »Magdalene«, sagte er.
    Der Name, der alte Name. Fast eine Zärtlichkeit.
    Wider bessere Einsicht suchte sie nach Spuren von Vorgängern und
fand ein einzelnes Haar, beunruhigenderweise ein Schamhaar, auf den weißen
Fliesen unter dem Waschbecken. Sie war inzwischen weitsichtig und konnte ihr
Spiegelbild verschwimmen lassen, wenn sie wollte, was sie manchmal tat, wenn
sie in Eile war. Aber heute wollte sie sich ansehen: nüchtern und objektiv.
    Sie knöpfte die Bluse auf wie eine Frau, die nicht beobachtet wird,
öffnete den Reißverschluß ihrer Jeans, ließ sie fallen und stieß sie mit den
Füßen beiseite. Die Unterwäsche, die nicht zusammenpaßte, behielt sie an. Sie
legte die Hände auf die Hüften und sah in den Spiegel. Es gefiel ihr nicht, was
sie sah.
    Sie war, was sie nie für möglich gehalten hätte: eine
zweiundfünfzigjährige Frau mit dünner werdendem blondem Haar; nein, nicht
einmal das, nicht blond, eher farblos, grau, eher in Richtung zum Unsichtbaren.
Unsichtbar an den Wurzeln und in schmutziges Gold übergehend, das es von Natur
aus nicht gab. Sie betrachtete die eckigen Hüften und die füllige Taille, deren
Zustand sie noch vor einem Jahr für vorübergehend gehalten hatte. Sie hatte
über Mädchen gelesen, die sich für dick hielten, obwohl sie in Wirklichkeit
erschreckend dürr waren (Marias Freundin Charlotte war so eines gewesen),
wohingegen sie, Linda, sich eigentlich für schlank hielt, obwohl sie etwas
Übergewicht hatte. Und natürlich waren da ihre Hände, deren Haut seit langem
rauher geworden war und noch vieles andere.
    Abrupt wandte sie sich vom Spiegel ab, unwirsch wie ein Arzt, der
sich über einen Patienten ärgerte. Sie nahm den Frotteebademantel vom Haken,
wollte ihn anziehen, behielt ihn dann aber über dem Arm und blieb wie erstarrt
stehen. War sie verrückt? Was hatte sie gedacht? Niemand würde ihren Körper
sehen. Wozu also dieser prüfende Blick eines Liebhabers?
    Sie versuchte noch einmal, ihre Tochter zu erreichen, diesmal über
das Handy. Linda hatte angeboten, die Gespräche zu bezahlen, aber Maria hatte
abgelehnt, und ihr Wunsch nach Unabhängigkeit war selbst angesichts hoher
Studentendarlehen nicht überraschend. Anders Marcus. Marcus brauchte Fürsorge,
er hatte Charme entwickelt, um fehlenden gesunden Menschenverstand zu
kompensieren, Charisma, das immer dann zum Einsatz kam, wenn es jemanden zu
gewinnen galt, der ihn behüten würde. Wie etwa David, Marcus’ Liebhaber, der
zuweilen ausgesprochen fürsorglich war und Marcus’ Eß- und Schlafgewohnheiten
überwachte, wie sie es in Jahren nicht getan hatte. Marcus war brillant, ohne
je Gebrauch davon zu machen; tatsächlich machte er es sich zum Prinzip, aus
diesem Vorteil keinen Nutzen zu ziehen.
    Linda legte sich mit dem Telefon aufs Bett in der Hoffnung, ihre
Tochter würde abnehmen und dabei lächeln. »Stör ich gerade?« fragte Linda.
    »Nein, ich schreibe Laborberichte fertig.« Maria war am
glücklichsten, wenn sie zwei Sachen gleichzeitig tun konnte.
    »Ich bin auf einem Literaturfestival«, sagte Linda. Und dachte
sogleich: Es ist nicht nötig, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit war, daß
etwas Unerwartetes sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
    Die Vorzüge der nördlichen Stadt wurden besprochen.
    »Ich habe gerade an deinen Vater gedacht«, fügte Linda hinzu. Was
zum Teil stimmte, wenn es auch nicht die Gedanken an Vincent waren, die sie aus
dem Gleichgewicht gebracht hatten. Diese Unaufrichtigkeit versetzte ihr einen
Stich.
    »Du vermißt ihn«, sagte Maria.
    Linda konnte sich in dem Spiegel über der Kommode sehen. Im sanften
Licht des Schlafzimmers sah sie besser aus – schlanker, vielleicht sogar
begehrenswert in dem weichen Hotelbademantel. »Hast du diesen Sommer irgendwann
frei?« fragte Linda.
    »Eine Woche. Vielleicht zehn Tage, wenn ich Glück habe.«
    »Könnte ich dich überreden, nach Maine raufzukommen?«
    Es folgte ein kurzes Zögern, lange genug, um Pläne aufzugeben, die
bereits gemacht oder erhofft worden waren. Linda registrierte die winzige Pause
und ärgerte sich, daß sie gefragt hatte. Sie erinnerte sich, wie Maria und
Marcus als Kinder gebettelt hatten, in die Stadt gebracht zu werden oder
Freunde nach Hause einladen zu dürfen. Und an ihr eigenes

Weitere Kostenlose Bücher