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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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andeutete, daß er es in Erwägung gezogen hatte.
    »Zumindest hoffe ich das. Er braucht bloß einen Tritt in den
Hintern. Und den hat er in Nashua gekriegt. Er hat ziemliche Angst.«
    »Haben Sie schon einen bestimmten Ort im Sinn?«
    »Ich bin nicht sicher. Ich muß ein bißchen herumtelefonieren. Man
sagt, Brattleboro sei der beste.«
    Linda erschauerte bei dem Gedanken, daß ihr Sohn in eine Anstalt
kommen sollte. Sie preßte die Lippen zusammen. Wenn es so schlimm war, wie
David sagte – natürlich war es das; Marcus hatte einen Unfall gebaut –,
brauchte eine Mutter noch mehr Beweise?
    »Ich würde gern mit Marcus sprechen«, sagte sie erneut.
    »Er schläft«, antwortete David. »Man hat ihm im Krankenhaus etwas
gegeben.«
    »Ich verstehe.« Sie holte tief Luft, um ihren Ärger zu unterdrücken.
Es war unnatürlich, eine Mutter von ihrem Baby fernzuhalten. Obwohl Marcus, um
ehrlich zu sein, eigentlich kein Baby mehr war.
    »Wenn es so schlimm ist, wie Sie sagen, müssen die letzten Monate
schwierig für Sie gewesen sein«, sagte Linda in einem Versuch, großmütig zu
wirken.
    »Ich liebe ihn.«
    Die knappe Erklärung war wie der Anblick eines Nackten auf der
Straße, wie etwas, was eigentlich verhüllt sein sollte. Vincents Tod hatte
Marcus befreit. Einen Monat später eröffnete er seiner Mutter und seiner
Schwester, daß er schwul sei. Im gleichen Jahr hatte er David kennengelernt.
    »Ich hatte keine Ahnung, daß er so unglücklich ist.«
    »Ich weiß nicht, inwiefern das mit Glücklichsein zu tun hat.«
    Wie wird man Alkoholiker, fragte sich Linda. Schlechtes Elternhaus?
Schlechte Erbanlagen? Ein verhängnisvolles Gen, das sich häufig in irischem
Blut findet? Sie hatte ihren Vater kaum gekannt, aber ihre Onkel, die
abwechselnd himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt waren, zuweilen
gewalttätig. Und wenn sie daran dachte, wie selbstgefällig, wie stolz sie auf
den Erfolg ihrer Kinder gewesen war: Maria in Harvard, jetzt Medizinstudentin
an der Johns Hopkins; und Marcus am Brown-College, jetzt im Hauptstudium an der
Boston University. Wie oft hatte sie die prestigeträchtigen Namen in Gesprächen
fallen lassen? Und jetzt müßte sie sagen: Mein Sohn ist Alkoholiker. Mein Sohn Marcus ist Alkoholiker.
    War auch sie Alkoholikerin? Ihre eigenen Trinkgewohnheiten
erschienen ihr jetzt in einem ganz anderen Licht.
    »Der Wagen hat einen Totalschaden«, sagte David. »Er wurde
abgeschleppt.« Wieder eine Pause. »Er wird seinen Führerschein verlieren.«
    »Oh, ich weiß, das ist so.« Sie unterdrückte ein aufkeimendes
Schluchzen. »Wir müssen einen Anwalt nehmen.« Zu spät bemerkte sie das ›wir‹.
    David wartete geduldig, er sprach jetzt von Elternteil zu
Elternteil. »Wir haben einen, Mrs. Fallon. Ein Freund von uns. Er ist sehr
gut.«
    Auf dem Bett sitzend, legte Linda eine Hand an die Stirn, die kalt
geworden war bei den Neuigkeiten. »Sie geben mir Bescheid.« Sie versuchte,
nicht hysterisch zu klingen. »Sie lassen mich wissen, wie es ihm geht und was
Sie unternommen haben. Was Sie entschieden haben.«
    Sie war sicher, ein Seufzen zu hören. »Natürlich mache ich das«,
sagte David.
    Linda legte sich aufs Bett zurück. Marcus litt, er schämte sich
und hatte ein verletztes Knie. Und würde noch mehr leiden, vor Gericht und
sicherlich im Entzug, über den sie nichts wußte. War der Entzug physisch
schmerzhaft? War er quälend eintönig? Sie versuchte, sich an all die
Gelegenheiten zu erinnern, bei denen sie Marcus hatte trinken sehen. Im
Brown-College hatte Bier in seinem Kühlschrank gestanden. Am Strand hatte er
manchmal nachmittags um drei mit Gin-Tonics angefangen. Doch sie hatte gedacht,
das Trinken sei fröhliches Feiern, bloße Ausgelassenheit in den Ferien. Aber
sie hatte Bescheid gewußt, nicht wahr? Sie hatte Bescheid gewußt. Und hatte ihrem Sohn schon verziehen, noch bevor das Wort Problem überhaupt ins Bewußtsein treten konnte, fast
genauso schnell, wie sie versucht hatte, ihre Erwartungen anzupassen, als sie
erfuhr, daß er schwul war. Und das war ihr damals auch schon vorher klar
gewesen. Natürlich war es ihr klar gewesen.
    Verzweiflung und Zorn wuchsen gleichermaßen an. Sie sah sich in dem
leeren Zimmer um, der Luxus verblich angesichts der Nachricht von zu Hause. Sie
stand auf und begann, mit verschränkten Armen auf und ab zu gehen. Sie redete
mit sich selbst und mit Marcus und Vincent, die nur blasse Abbilder dessen waren,
was sie eigentlich brauchte. Sie ging auf und ab,

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