Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
zögern, »bin ich sicher, Sie würden mir
zustimmen, daß Ihr Junge einen vollkommenen Narren aus sich gemacht hat.«
Linda sah den Australier an, der den Blick abwandte.
Sie wußte, daß sie sich wie ein Schulmädchen verhielt, dessen Freund
auf dem Schulhof beleidigt worden ist. Aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück,
sie war schon zu weit gegangen.
»Mir jedenfalls«, sagte Linda, »sind die brillanten Gedichte eines
Mannes, der sich in der Öffentlichkeit blamiert oder nicht blamiert hat, lieber
als die verwaschene Prosa eines Möchtegernschreibers, der auf einen Streit mit
mir aus ist, auf den ich mich nicht einlassen werde.«
Und Seizek antwortete sotto voce , womit er
ihr gleichzeitig bedeutete, daß sein Kampfstil dem ihren überlegen war: »Ich
wußte gar nicht, daß jemand zu solcher Leidenschaft fähig ist, dessen
langweiliges Äußeres nur in der Trübseligkeit seiner Gedichte Entsprechung
findet. Ich nehme an, es gibt Frauen, die dieses Zeug lesen? Die Art von Frauen
vermutlich, die gewöhnlich Kitschromane verschlingen. Wahrscheinlich kann man
damit ordentlich Kohle machen, oder?«
Linda antwortete ebenfalls sotto voce. »Von Ihnen lasse ich mich nicht ficken«, sagte sie, das Wort an einem Fremden
ausprobierend.
Seizek sah verdattert aus, wenn auch nur einen Moment lang, was
Linda dennoch als Sieg verbuchte.
Mit bewußt langsamen Bewegungen, damit es nicht nach Flucht aussah,
wandte sich Linda um und ging in Richtung Tür.
Das Wort gefiel ihr, dachte sie, als sie den Raum verließ. Es hörte
sich gut an. Es fühlte sich gut an.
Den Rest ihres Ärgers reagierte sie am Bedienungsknopf des
Fahrstuhls ab, der sich zu rächen schien, indem er einfach nicht kam. Ein
älteres Ehepaar tauchte auf und stellte sich neben sie. Aus einem Zimmer
irgendwo im Gang waren Beischlafgeräusche zu hören: das rhythmische Stöhnen
einer Frau, angestrengt und gedehnt. Das ältere Ehepaar erstarrte vor
Verlegenheit. Linda empfand Mitleid und wünschte, ihr wäre eine originelle
Bemerkung eingefallen, um dem Ehepaar die Befangenheit zu nehmen, aber die
Verlegenheit erwies sich als ansteckend. Als sie zur Treppe ging, dachte sie:
›Welches riesige Gefäß von Schuld hat Thomas angezapft?‹
Vincents Appartement in Boston unterschied sich von allem, was
sie vorher gesehen hatte – schmucklos und klar wie ein Schulraum, mit einer
Werkbank in der Mitte, die sich mit einer Kurbel in verschiedene
Schrägstellungen bringen ließ. An den Wänden hingen Schwarzweißfotos, einige
von seiner großen Familie (es sollte Monate dauern, bis sie alle Namen gelernt
hatte), andere von Fenstern, die seine Phantasie angeregt hatten: strenge
koloniale Kassettenfenster; große, vielfach gegliederte Dachfenster, tief in
Ziegelmauern gesetzt, einfache Seitenlichter neben einer getäfelten Tür. Seine
Räume wirkten klar und makellos, merkwürdig erwachsen und seltsam calvinistisch
in ihrer heiter-strengen Rechtwinkligkeit. Manchmal, wenn er am Wochenende kurz
weg war, saß sie mit einem Stoß Papier und einem Stift an seiner Werkbank und
schrieb kurze Prosastücke, Briefe an sich selbst, Briefe, die Vincent nie zu
Gesicht bekam. Er wußte nichts von ihren Schwierigkeiten, denn er hatte sie
lachend kennengelernt, und sie hatte entdeckt, daß sie das Glück, das sie bei
ihm gefunden hatte, nicht durch schmutzige Geschichten aus ihrer jüngsten
Vergangenheit trüben wollte. Und folglich – teils auch, weil es so von ihr
erwartet wurde – entsprach sie allmählich dem Bild, das er von ihr hatte:
vernünftig und praktisch (was größtenteils zutraf), verträumt und unbeschwert
im Bett, immer bereit, über die eigenen oder die Schwächen der anderen zu
lachen. Am ersten Abend, als er sie in sein Appartement mitnahm, kochte er für
sie – Spaghetti mit roter Soße – und machte ihr nachdrücklich klar, daß er
italienischer Herkunft war, im Kontrast zu ihrer irischen. Die Soße war glatt
und dick und hatte wenig mit den Tomatensoßen zu tun, die sie bislang gesehen
oder gegessen hatte. Doch sie, die achtlos gehungert hatte, aß gierig und
förderte den Eindruck, eine Frau mit Appetit zu sein, ein Eindruck, der im Bett
nicht widerlegt wurde, wenn sie (auch auf diesem Gebiet ausgehungert) auf ihren
neuen Liebhaber mit fast animalischer Lust reagierte. (War es Vincents
glänzender Pelz, der sie an Seehunde erinnerte?) Und es war keine Lüge, wenn
sie sich als gesund präsentierte, denn bei Vincent wollte sie es sein und war
es daher auch.
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