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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Schuld
dafür zu geben.
    Er stieg aus dem Bett und stand nackt am Fenster. In dem
unheimlichen Licht waren gerade noch die Jacaranda-Bäume und die
Wolfsmilchsträucher zu erkennen. Ein Duft von Jasmin lag in der Luft. Nachdem
er leicht betrunken von der Party heimgekommen war, hatte ihn eine Flut von
Erinnerungen überwältigt, die er nicht abwehren konnte, auch nicht, als Regina
ihn mit barschem Unterton fragte, ob er überhaupt zuhöre. Er hatte behauptet,
Ndegwas Verhaftung habe ihn abgelenkt, was durchaus stimmte, obwohl das nicht
der Grund für seine nostalgischen Gedanken war. Während der Autofahrt hatte er
ein junges Mädchen vor sich gesehen – ja, sie war damals nur ein Mädchen
gewesen –, das zu spät in ein Klassenzimmer kam, in dem sich bereits Schüler
und ein Lehrer versammelt hatten, und ihr stolzer Gang war ein überraschender
Ausdruck von Selbstbewußtsein gewesen. Ihr grauer Rock reichte nur bis zur
Mitte ihrer Schenkel, eine gewagte Länge für die damalige Zeit. Jeder Junge,
selbst der Lehrer hatte auf ihre langen Beine (ellenlange, dachte er jetzt) und
die weiße Baumwollbluse gestarrt, an der ein Knopf zuviel offenstand. (Und
selbst heute noch konnte ihn eine Frau in einer Baumwollbluse erregen, eine
leicht beunruhigende Tatsache in einem Land, wo kurze Röcke und weiße
Baumwollblusen bei Schulmädchen Pflicht waren.) Das Mädchen stand in der Tür
mit den Büchern in der Hand, Kaugummi kauend, und er war sicher, Mr. K. würde sie
anbellen, das Ding auszuspucken. Aber sogar Mr. K. hatte es die Sprache
verschlagen, und er brachte kaum mehr heraus, als sie nach ihrem Namen zu
fragen und ihn mit zitternden Fingern im Klassenbuch zu kontrollieren. Und
irgendwie hatte Thomas selbst damals gewußt, daß der Rock, die Bluse und der
Kaugummi nicht zu ihr paßten, daß es eine Maske war, die sie ausprobierte. Und
sofort fragte er sich, wie es kam, daß er das Mädchen nicht schon früher
gesehen hatte, denn er wußte, daß er sie tagelang verfolgt hätte, bis sie mit
ihm gesprochen hätte. Ihr Gesichtsausdruck war keineswegs frech, eher
zurückhaltend, so daß er vermutete, daß sich hinter ihrer Maske vielleicht
Angst verbarg und sie jemand war, der möglicherweise leicht ausgenutzt werden
konnte. Er wünschte sich inständig, daß sie sich neben ihn setzte, auf einen
der sechs oder sieben freien Plätze im Raum (tatsächlich betete er darum: Lieber Gott, bitte mach, daß sie sich neben mich
setzt ), und wunderbarerweise, als genügten Wille und Wunsch, als hätte Gott
persönlich eingegriffen, trat sie einen Schritt nach vorn, zögerte und nahm
dann den Platz hinter Thomas ein. Und die Erleichterung, die er verspürte, war
so groß, daß er sich zum erstenmal in seinem Leben vor sich fürchtete.
    Aus dem Badezimmer konnte er hören, wie das Wasser aus der Wanne
lief. Regina wäre rosig von dem heißen Wasser. Er stellte sie sich nackt vor,
versuchte, sich zu stimulieren, indem er sich selbst berührte, allerdings ohne
rechte Lust. Einst war die Lust auf Regina selbstverständlich und unmittelbar
gewesen, aber jetzt mußte er die Falte zwischen ihren Augenbrauen vergessen,
den weinerlichen Tonfall auf dem Markt, die Tatsache, daß sie ihren Körper
haßte. Doch bei dem Versuch zu vergessen, weckte er nur weitere Erinnerungen –
eine Folge von Bildern löste die nächste ab, eine Dia-Show, die er nicht zu
kontrollieren vermochte. Ein Mädchen, das in einer Oktobernacht von einem Pier
sprang. Ein Matchsack, der hoch und weit aufs Meer hinausgeschleudert wurde.
Ein dunkles Labyrinth winziger Räume, die nach Zwiebeln und Johnson’s Baby-Öl
rochen. Eine Bluse, die über eine zarte Schulter glitt, ein Bild, das für ihn
jahrelang seinen erotischen Anstrich behalten hatte. Ein kleines Mädchen, das
ein Dreirad trug.
    Regina öffnete die Badezimmertür, und ein Lichtstrahl fiel ins
Schlafzimmer. Sie trug nicht das Nachthemd, sondern hatte sich ein Kitenge-Tuch
um die Hüften geschlungen. Er wußte nicht, ob sie dies absichtlich oder
unbewußt getan hatte, aber das Herz hämmerte ihm in der Brust. Sie knipste das
Badezimmerlicht aus und stand provozierend in der Tür; ihre Brüste leuchteten
wie weiße Kugeln im Mondlicht. Ihm blieben nur Sekunden, wenn überhaupt, bis
sie sein Zögern bemerken und sich bedecken würde. Und der Rest der Nacht wären
Tränen und Entschuldigungen, Worte, die sie beide bereuen würden. In der Ferne
hörte er, wie manchmal in der Nacht, das Geräusch von Trommeln,

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