Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
vom
schneebedeckten Gipfel des Mount Kenia überragt wurde. Ein Büffel stand mitten
auf der Straße, und Thomas brachte den Wagen gerade noch zum Stehen, bevor er
das riesige Tier angefahren hätte. Er drehte die Fenster herunter und saß
unbeweglich da. Von allen Tieren Afrikas, hieß es in den Trainingssitzungen,
sei der Büffel das gefährlichste. Er konnte einen Menschen in Sekundenschnelle
töten, ihn mit tödlicher Genauigkeit auf die Hörner nehmen und ihn zu Tode
trampeln, falls er ihn beim Aufspießen nur verwundet hatte. Man sollte Steine
auf ihn werfen, dann würde er normalerweise weglaufen; Thomas jedoch glaubte,
daß die einzige wirkungsvolle Strategie darin bestand, sich langsam, rückwärts
gehend zu entfernen. Er saß im Wagen und rührte sich nicht. Hinter ihm stauten
sich Autos, aber niemand hupte. Nach einer Weile – nach fünfzehn oder zwanzig
Minuten – trabte der Büffel majestätisch davon. Schweißdurchnäßt ließ Thomas
den Wagen an.
Die Stadt Njia war größer, als er erwartet hatte. Er fuhr durch eine
Straße namens Kanisa, an einem Kirchturm und einer Bar namens Purple Heart Club
vorbei. Er hielt am Wananchi-Café und fragte die Besitzerin, eine alte Frau mit
Zahnlücken und einem kranken Auge, ob sie Englisch spreche. Das tat sie nicht,
erklärte sich aber einverstanden, Suaheli zu sprechen, was Thomas auf einzelne
Wörter und Ausdrücke beschränkte, die er nicht in Sätze fassen konnte. Er sagte mzungu und Friedenscorps und manjano
(gelb), um die Farbe ihres Haares zu beschreiben, und zuri für schön. Die alte Frau schüttelte den Kopf,
bedeutete ihm aber, ihr nach nebenan in den Laden ihres Bruders zu folgen, wo
er eine Flasche Fanta kaufte, denn sein Mund war vollkommen ausgetrocknet,
entweder von der Nervenanspannung oder von der Fahrt.
Die Geschwister unterhielten sich in ihrer Stammessprache und
schienen sich endlos über das Thema auszulassen. Während sie gestikulierten,
lauschte Thomas einer Gruppe von Straßenmusikanten, die mit Sodaflaschen und
Flaschenverschlüssen Musik machten. Die Luft war kühl und feucht wie ein früher
Junitag zu Hause. Schließlich wandte sich die Frau an Thomas und sagte auf
Suaheli, daß es eine mzungu gleich hinter Nyeri Road
gebe, die Lehrerin sei. Thomas dankte den beiden, trank die Fanta aus und ging.
Bei der kleinen Kirche auf der Nyeri Road mußte er einem Mesner, der
die Stufen kehrte, nur die Worte mzungu und
Friedenscorps sagen. Das Wort schön fügte der Mann selbst hinzu.
Dennoch war der Weg nicht leicht zu finden. Die Straße gabelte
sich zweimal, und Thomas mußte raten, welche Abzweigung die richtige war, da er
bei der Kirche keinerlei Hinweis bekommen hatte. Er fuhr in eine Landschaft
hinab, die ein Regenschauer kurz zuvor reingewaschen hatte. Zuweilen fegten die
Regentropfen von den Macadamia-Bäumen wie Gewitterschauer über seine
Windschutzscheibe. Die Luft war so frisch, daß er anhielt und ausstieg, um sie
einzuatmen, sie gleichsam zu schmecken. Um sein rasendes Herz zu beruhigen. Er
übte Anfangssätze für Unterhaltungen und bereitete sich auf alle Möglichkeiten
vor. Vielleicht war der Mann namens Peter da. Oder Linda wollte gerade
weggehen. Oder sie war frostig ihm gegenüber, weil sein Besuch ihr nicht
gelegen kam. Ich war in der Gegend, würde er sagen. Ich dachte, ich schau mal
vorbei. Ich hab ganz vergessen, dich einzuladen. Regina und ich würden uns
freuen.
In seinem elektrisierten Zustand hatte er den Eindruck, als summe
und vibriere die Straße. Hinter seinem Zielort zog eine purpurfarbene Wand auf
und kündigte wolkenbruchartige Regenfälle an. Er hatte diese Sintfluten erlebt;
das Wasser schoß einfach herunter, als hätte jemand die Schleusen geöffnet, um
einen See abzulassen. Die Sonne hinter ihm beschien Chrysanthemenfelder,
riesige, ausgedehnte Ebenen aus Gelb und Lila, und dann tauchte am Ende der
Straße ein weißverputztes Haus auf, das sich leuchtend und klar gegen den
dunklen Himmel abzeichnete. Ein Leitstern, wenn er so wollte. Rostrote Ziegel
bildeten ein Muster auf dem Dach, und an Fenstern und Türen kletterte roter und
weißer Jasmin in die Höhe. Ein alter Peugeot stand in der Einfahrt. Er parkte
seinen Wagen dahinter, womit er sich allen im Haus bemerkbar machte, das so
einsam lag wie eine Einsiedelei auf einer irischen Klippe.
Sie öffnete die Tür, als er bei den Stufen ankam, und so blieben ihm
vielleicht zehn oder zwanzig Sekunden, um sich vorzubereiten, was so gut wie
gar nichts war.
Weitere Kostenlose Bücher