Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
das
nützen soll, ist mir ein Rätsel.«
Thomas lachte.
»Ich unterrichte dreißig Kinder in einem Betonraum von der Größe
einer Garage. Ich verwende Bücher aus dem Jahr 1954 – Geschenke aus irgendeinem
englischen Dorf. Sie sind mit typisch englischen Kritzeleien vollgeschmiert.
›Arthur ist ein Wichser‹ und solches Zeug. Was macht deine Frau?«
Thomas lehnte sich an die Wand und krempelte die Ärmel hoch. Die
Luft im Raum war feucht. Ein plötzlicher Donnerschlag ließ sie zusammenzucken,
obwohl er zu erwarten war.
»Das Gewitter«, sagte sie.
Sie stand auf und schloß im selben Moment, als die Sintflut
einsetzte, die Läden. Der Regen fiel kerzengerade herab und erzeugte ein
dumpfes Grollen auf dem Ziegeldach, so daß sie lauter sprechen mußten. Irgendwo
von draußen ertönte das laute Klappern von Windspielen.
»Der Vater meiner Frau war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Missionar
in Kenia«, erklärte Thomas. »Ein Pfarrer der Episkopalkirche. Er ist tief
bewegt von der Zeit, die er hier verbracht hat, und behauptet, es seien die
schönsten Jahre seines Lebens gewesen et cetera, et cetera. Im geheimen habe
ich ihn im Verdacht, daß irgendwo eine Frau im Spiel war.«
»Das ist eine Herausforderung, der sich unter Umständen alle Töchter
stellen müssen«, sagte Linda.
»Regina hat ein Stipendium, um die psychischen Auswirkungen von
Tropenkrankheiten auf Kinder zu untersuchen. Sie kriegt ziemlich schlimme
Sachen zu sehen.«
»Deine Frau muß sehr mutig sein.«
Er wollte eigentlich nicht über Regina sprechen. Er wünschte, es wäre
nicht nötig. »In dieser Hinsicht sehr.«
Linda wandte den Kopf ab und sah ins Gewitter hinaus. Außer
Regenschwaden war nichts zu erkennen. Wenn es vorbei war, würden weiße und
cremefarbene Blütenblätter den Boden bedecken. Es lag ein Duft von Ozon in der
Luft, den er besonders mochte: er erinnerte ihn an Sommernachmittage als Junge.
»Du trägst immer noch das Kreuz«, sagte er.
Automatisch griff sie danach. »Ich weiß nicht, warum.«
Thomas durchfuhr ein Stich. Schließlich hatte er es ihr geschenkt.
»Gott ist überall in diesem Land«, sagte sie. »Und dennoch hasse ich
ihn zutiefst.«
Die Bemerkung war so verblüffend, daß Thomas seinen Schmerz sofort
vergaß. Der Zorn, mit dem sie das gesagt hatte, schockierte ihn. Er wartete auf
eine Erklärung.
»Man kann nicht einmal auf den Regen hinaussehen, auf diese
Sintfluten, ohne an Gott zu denken«, sagte sie. »Er ist überall, wohin man sich
wendet. Und schrecklich grausam.«
Selbst Thomas, der eigentlich überhaupt nicht gläubig war, entsetzte
ihre Lästerung.
»So viel Armut«, sagte sie. »So viel Tod, Krankheit und Leid. Man
kann den Kolonialismus dafür verantwortlich machen, was hier jeder tut. Oder
die Stammesverfassung, die genauso herhalten kann wie jeder andere Grund. Aber
letzten Endes ist es Gott, der das alles zuläßt.«
Thomas war beeindruckt von der Kraft ihrer Überzeugung. »Wer so tief
haßt, muß sehr lieben«, sagte er.
Ihre Wangen waren gerötet von ihrer plötzlichen
Leidenschaftlichkeit, zwischen ihren Augenbrauen stand eine Falte. Sie war
eigentlich nicht schön, obwohl er und andere sie so bezeichnet hatten. Sie war
eher hübsch. Was seiner Meinung nach auf irgendeine
undefinierbare Weise zugänglich hieß.
»Du siehst viel Armut?« fragte er.
Sie wandte sich ihm zu. »Sie haben nicht mal Schuhe, Thomas.«
»Die kenianische Elite. Auch sie erlauben das«, sagte er.
»Du meinst die Wabenzis?« fragte sie mit offenkundigem Abscheu und
benutzte den verbreiteten Spitznamen für die Kenianer, die Autos der Marke
Mercedes besaßen. »Du meinst die Afrikaner, die zu Fuß kommen und im Jet
wegfliegen?«
Sie befühlte ihr Haar. Es trocknete, trotz der Feuchtigkeit. Sie
stand auf und ging in ein Zimmer, das er für das Schlafzimmer hielt, und kam
mit einer Bürste zurück. Sie setzte sich in einen Sessel und begann, ihr Haar
zu entwirren.
»Es ist nicht unser Kampf«, sagte er.
»Wir übernehmen ihn, solange wir hier sind.«
»Ich wollte nicht nach Afrika gehen«, sagte er. »Es war die Idee
meiner Frau. Du magst das glauben oder nicht, aber ich hatte gerade die Wonnen
der Gewohnheit zu schätzen gelernt.« Verlegen hielt er inne. »Ich schreibe«,
sagte er.
Sie lächelte. Nicht überrascht. »Was schreibst du?«
Er wandte sich ab. »Lyrik«, sagte er so beiläufig wie möglich, als
hinge nicht sein gesamtes Leben davon ab. »Ich habe nicht das Gefühl, hierher
zu
Weitere Kostenlose Bücher