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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wünschte: sich an
Botschaftsvertreter wenden? Geschliffene Briefe schreiben? Die Presse anrufen?
    Mary Ndegwa stand langsam auf. »Kommen Sie mit«, sagte sie.
    Thomas, der nicht ungehorsam sein wollte, folgte ihr. Sie verließen
das Haus durch eine Hintertür. Ndegwas Mutter, die er an diesem Tag noch nicht
gesehen hatte, saß auf einer Bank unter einem Baobab-Baum. Sie hielt den Kopf
in die Hände gestützt, schaukelte hin und her und summte oder wehklagte dabei;
sie sprach nicht mit ihnen, schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Sie hatte die
Brüste einer alten Frau und ihr fehlten Zähne. Sie hatte Angst um ihren
Erstgeborenen.
    An einer steilen Terrasse entlang gingen sie durch einen Garten mit
Mangobäumen und Büschen voller roter Kaffeebohnen. Mary Ndegwa schürzte den
Rock ihres Kaftans und setzte die roten Schuhe mit den Plateausohlen fest auf
den lehmigen Pfad. Er bemerkte, daß die Schuhe frisch poliert worden waren. Auf
einer kleinen Anhöhe blieb sie stehen.
    »Mr. Thomas, haben Sie vom Mau-Mau-Aufstand gehört?«
    »Ja, natürlich.«
    »Hier ist der Ort, an dem Ndegwas Vater hingerichtet wurde«, sagte
sie. »Er wurde von britischen Soldaten in den Hinterkopf geschossen.«
    Thomas sah auf den Boden, der einst von Blut getränkt war.
    »Man ließ ihn sein eigenes Grab schaufeln, bevor er erschossen
wurde. Seine Frau und seine Kinder wurden herausgebracht und gezwungen,
zuzusehen. Ndegwa war zehn Jahre alt, als er das mit ansehen mußte.«
    Thomas sah auf das Kreuz und die Inschrift: Njuguna Ndegwa.
Freiheitskämpfer. Ehemann. Vater. Geh mit Gott.
    Ndegwa, sein Freund, hatte im Alter von nur zehn Jahren gesehen, wie
ein Soldat seinen Vater erschoß. Sie waren gleichaltrig. Was, fragte sich
Thomas, war in seiner eigenen Kindheit auch nur ansatzweise vergleichbar damit?
    Mary Ndegwa legte die Hand auf Thomas’ Arm. Noch bevor sie den Mund
öffnete, wußte er, was sie sagen würde. Ja, wollte er sagen, er war ein
Dichter, der in einer der vielen Türen stand.
    Ein Dutzend Kinder in alten, vor Abnutzung grauen Shorts fielen
über den Escort her – sie spähten hinein, drehten am Steuerrad, berührten das
Radio. Er klopfte auf die Taschen seiner Sportjacke und war erleichtert, daß er
die Schlüssel nicht im Wagen gelassen hatte. Er hätte die Kinder gern zu einer
Spazierfahrt eingeladen, wußte aber, daß er zu betrunken und zu benommen dafür
war.
    Langsam fuhr er von der Hütte weg, voller Angst, ein Kind zu
überfahren, und auf dem Weg an den steilen Terrassen entlang schwirrte ihm eine
Menge zusammenhangloser Gedanken durch den Kopf, die alle gleichzeitig um
Aufmerksamkeit buhlten, so daß nur Satzfetzen, Fragmente von Geschichten und
Bilder in ihm abrollten. Regina mit verschränkten Armen, Mary Ndegwa mit ihrem
Fliegenwedel, Linda, die sich zu einer Ananas hinunterbeugte.
    Er erreichte die Kreuzung in Ruiru, ohne genau zu wissen, wie er
dorthin gelangt war. War er falsch abgebogen? Bei der Gabelung links gefahren,
wo er nach rechts gemußt hätte? Er hatte nicht aufgepaßt. Der Pfeil nach Njia
zeigte nach Norden, der nach Nairobi nach Süden. Zu behaupten, er wäre aus
Versehen falsch abgebogen, wäre gelogen, das wußte er. Njia: 80 Kilometer. Auf
der A2 würde er, wenn er Glück hatte, eine Stunde dafür brauchen. Er fuhr an
den Straßenrand, saß bei laufendem Motor da und sah ein matatu ,
ein Sammeltaxi, das zum Bersten mit Menschen, Gepäck, Hühnern und Ziegen
beladen war, rücksichtslos an sich vorbeirasen. Es seien Todesfallen hieß es in
den Trainingssitzungen. Wenn man eines benutzen müsse, solle man sich auf den
Rücksitz setzen und eine Sonnenbrille tragen, um sich vor splitterndem Glas zu
schützen, falls sich das Fahrzeug überschlüge.
    Es war Samstagnachmittag, und Linda wäre vielleicht bei dem Mann
namens Peter. Vielleicht saßen sie auf der Veranda oder sie lagen (was er nicht
hoffte) im Bett. Er zog es vor, sie sich allein am Eingang einer Lehmhütte
vorzustellen, lesend. Er versuchte, sich nicht einzureden, daß er ohnehin in
ihrer Nähe war und daß es vollkommen in Ordnung war, einen kleinen Umweg zu
machen, um eine alte Freundin aus der Heimat zu besuchen. Denn schon als er
losfuhr und den Wagen nach Norden lenkte, wußte er ganz genau, was er tat.
    Er fuhr durch dunkle Eukalyptuswälder, durch Bambusdickicht und an
Sümpfen vorbei, aus denen Nebelschleier aufstiegen, und kam in eine Landschaft
aus sanften grünen Hügeln und weiten Tälern, die in der Ferne

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