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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gehören«, sagte er.
    »Das Leben kann verrückt und wirr sein«, sagte sie.
    »Wir leben in Karen in relativem Luxus, während um uns herum … Nun,
du weißt so gut wie ich, was um uns herum los ist.«
    Sie nickte.
    »Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte er. »All
die Widersprüche.«
    Der Ausschnitt ihrer Bluse ließ ihr Schlüsselbein sehen. Er dachte
an den Pullover, den sie an jenem letzten Tag trug, an dem er sie gesehen
hatte. Ein blaßblauer Pullover mit offenem Kragen. Ihr Wollrock hatte damals im
Wagen in leichten Falten um ihre Schienbeine gelegen.
    »Was hast du nach Middlebury gemacht?« fragte er.
    »Ich ging zum Weiterstudium nach Boston. In der Zwischenzeit habe
ich an der High-School von Newburyport unterrichtet.«
    »Du warst in Boston und Newburyport? Die ganze Zeit?« Thomas konnte
es nicht fassen und rechnete die Entfernung zwischen Newburyport und Cambridge
aus. Höchstens eine Stunde. Zwei von Hull aus. Nicht einmal eine von Boston.
    Er versuchte, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. »Hast du allein
gelebt? Hast du dir mit jemandem das Zimmer geteilt?«
    »Ich hatte eine Zeitlang einen Freund.«
    Er zwang sich, nicht nach dem Freund zu fragen. »Ich habe versucht,
mit deiner Tante zu sprechen, wenn ich sie gelegentlich traf. Nach dem Abschluß
meines Studiums war ich etwa sechs Monate in Hull. Sie wollte nicht mit mir
reden. Sie hat sogar so getan, als bemerkte sie mich gar nicht.«
    »Darin ist sie sehr gut.«
    »Ich habe weiterstudiert, um nicht eingezogen zu werden. Dann kam
meine Nummer an die Reihe, sie war günstig, und ich mußte nicht zum Wehrdienst,
also habe ich aufgehört. Alles in allem gibt es wahrscheinlich ein paar Jahre,
an die ich mich nicht mehr besonders gut erinnern kann. Ich bin viel
herumgezogen. Ich ging eine Weile nach Kanada. Dann nach San Francisco. Ich war
ziemlich schwer drogenabhängig.«
    »Was für welche?«
    »Haschisch. LSD . Gelegentlich rauche ich
immer noch Haschisch.«
    Sie legte die Haarbürste auf den Tisch. »Ich war dir immer dankbar«,
sagte sie. »Ich freue mich, daß du gekommen bist, weil ich dir das immer sagen
wollte. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre …«
    Er ließ sie abschweifen. Er leugnete die Dankbarkeit nicht. Er hatte
immer sehr genau gewußt, wie leicht man sich verlieren konnte.
    »Möchtest du etwas zu essen?« fragte sie.
    »Eine Kleinigkeit«, sagte er. »Nicht viel.«
    Sie ging in die Küche. Er sprach mit ihr, während sie, mit dem
Rücken zu ihm, zwischen Arbeitsplatte und Kühlschrank hin und her ging. »Hast
du Elektrizität?« fragte er.
    »Manchmal.«
    Im Haus war es so dunkel, daß sie das Licht hätten andrehen können.
    »Hast du je Giraffe gegessen?« fragte er.
    »Nein, aber Antilope. Und Krokodil.«
    »Krokodil ist nicht so schlecht. Es schmeckt wie Huhn.«
    Sie legte Brot und Käse auf einen Teller. Und etwas, was wie Gelee
aussah. Er spürte plötzlich eine Gier nach Süßem.
    »Ich komme mir manchmal wie die falsche Person am richtigen Ort
vor«, sagte er. Sein Unbehagen war so groß, daß er verzweifelt versuchte, es zu
erklären. »Oder umgekehrt.«
    »Du bist immer so gewesen.«
    Der Kanga bauschte sich einen Moment um ihre Hüfte. Der Stoff
schwang leicht um ihre Waden, während sie sich bewegte.
    »Hier zu leben ist wie einen endlosen Dokumentarfilm anzusehen«,
sagte er.
    Sie lachte.
    »Erzähl mir von Peter«, sagte er.
    Sie dachte einen Moment nach. »Nein.«
    Thomas fühlte sich entmutigt durch ihre Weigerung, obwohl er ihre
Loyalität bewunderte. Eine Loyalität, die er selbst nicht ganz aufzubringen
vermochte.
    »Es ist anregend«, sagte er. »Mit dir zu reden. Es ist
wahrscheinlich eine Form der Blutspende, dieser Wunsch, seine Seele in eine
andere Person zu ergießen.«
    »Du glaubst nicht an die Seele.«
    Sie brachte das Essen an den Tisch und bedeutete ihm, sich zu
setzen. Er nahm sich reichlich Käse und Gelee auf ein Stück Brot.
    »Wir haben kein gutes Wort dafür, nicht wahr?«
    »Geist?« schlug sie vor.
    Er schüttelte den Kopf. »Zu religiös.«
    »Geist, im Sinn von Gespenst?«
    »Zu übernatürlich.«
    »Persönlichkeit?«
    »Mein Gott, nein.«
    »Das Wort Leben ist zu weit gefaßt, nehme
ich an.«
    »Ich brauche wieder ein verdammtes Wörterbuch«, sagte Thomas. »Meins
wurde gestohlen, als ich im Thorn Tree ein Bier getrunken hab.«
    Sie lachte. »Wie komisch, so etwas zu stehlen«, sagte sie.
    Sie hatte Tee gemacht. Nachdem er das Wort Bier erwähnt hatte,

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