Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Rücken. »Die Frauen bedrängen mich manchmal, ihnen
medizinisch zu helfen«, sagte sie. »Sie bringen mir ihre Babys und weinen, aber
natürlich kann ich nichts tun. Manchmal glaube ich, daß Gott mich prüfen will.
Daß ich Medizin studieren, zurückkommen und hier praktizieren soll.«
»Ziehst du das in Erwägung?«
»Mir fehlen die Voraussetzungen dafür.«
»Ich bin sicher, daß du als Lehrerin unendlich viel Gutes tust.«
»Ich tue praktisch überhaupt nichts Gutes.«
Sie stellte das Kind auf den Boden und führte es an der Hand zu
einem größeren Mädchen, das an der Wand lehnte. Linda und das Mädchen
unterhielten sich kurz, und als sie zu Thomas zurückkam, erklärte sie ihm, daß
die Schwester des Jungen ihn nach Hause bringen würde. Gemeinsam verließen
Linda und Thomas das Klassenzimmer und gingen über einen kurzen Pfad den Hügel
zu einer Kirche hinauf.
»Es ist eine katholische Kirche«, sagte sie und öffnete die Tür.
»Eine der wenigen in der Gegend. Sie stammt aus der Zeit, als während des Kriegs
die Italiener hier waren.«
Die Kirche mutete nach dem kahlen Schulzimmer wie eine Offenbarung
an, durch fünf Buntglasfenster fiel Licht in den kühlen Innenraum. Die Farben
waren klar und leuchtend, mit dicken Bleistreben zwischen den einzelnen Glasteilen.
Ein kühnes Kunstwerk für die damalige Zeit, dachte Thomas. Ein frischer Duft
wie von Gräsern oder Weizen durchzog das kleine Gebäude. Dicht gedrängt, fänden
etwa hundert Gläubige darin Platz.
Er beobachtete, daß sie die Hand in ein Weihwasserbecken gegenüber
vom Eingang tauchte, sich bekreuzigte, an einer Bank das Knie beugte und sich
einen Moment lang niederkniete, bevor sie sich setzte. Er spürte ein Brennen in
der Brust, als bliese ein heißer Wind durch ihn hindurch. Die Erinnerungen
waren so stark, daß er sich mit der Hand an einer Bank festhalten mußte, um das
Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er stand im hinteren Teil der Kirche und ließ
sie eine Weile allein, bevor er sich zu ihr setzte. Er wollte ihr Zeit lassen,
um zu dem Gott zu beten, den sie so leidenschaftlich haßte.
Schweigend saßen sie nebeneinander, ihr Kopf und ihre Füße kamen ihm
seltsam nackt vor. Er erinnerte sich, wie sie vor Jahren die Mantilla hastig
übers Haar legte, wenn sie am Samstagnachmittag zur Beichte ging, weil sie
überzeugt war, ohne Kopfbedeckung keine Kirche betreten zu dürfen. Er wollte
ihre Hand nehmen, aber irgendein Rest von Schicklichkeit hielt ihn davon ab.
»Erkennst du die Frau in dem einen Fenster dort?« fragte sie, kniff
die Augen leicht zusammen und deutete auf eines der Buntglasfenster im
Seitenteil der Kirche. Es war die Darstellung einer Frau, die gleichzeitig
sinnlich und verzückt aussah und die Augen nach oben, wie zum Himmel gerichtet
hatte. Sie trug einen leuchtendgelben Kikois, und ihr krauses Haar umrahmte
wirr ihr Gesicht. Im Gegensatz zu den übrigen Figuren im Bild war sie schwarz.
»Magdalena.«
»Du erinnerst dich.«
»Natürlich erinnere ich mich. Es ist ein wundervolles Bild. In der
Auffassung ganz ähnlich wie das von Tizian, das ich letztes Jahr in Florenz
gesehen habe. Tatsächlich glaube ich, daß es Tizian nachempfunden ist. Das Haar
war unglaublich. Nun, sehr Tizian-artig. Magdalena wird oft halb nackt mit
langem, fließendem rötlichblondem Haar dargestellt. Sehr schön.«
»Du warst letztes Jahr dort?«
»Auf dem Weg hierher. Ich habe noch zwei weitere Magdalenen in
Italien gesehen. Die von Bernini in Siena, bei der es sich um eine Skulptur
handelt. Ihre Brüste sind entblößt und ihr Haar fließt darüber. Die von
Donatello ist ganz anders. Hager. Asketisch. Mehr die Büßerin.«
»Interessant, daß sie schwarz ist.«
»Ja«, sagte er. »Sie dürfte um 1945 entstanden sein?«
»Etwa.«
»Du kneifst die Augen zusammen.«
»Ich glaube, ich brauche eine Brille.«
»Im Christentum gilt sie als die Verkörperung von Erotik und
Weiblichkeit«, sagte er.
»Du hast dich eingehend damit beschäftigt«, sagte sie.
»Ja, wegen einer Sache, an der ich arbeite. Hast du ›Die Letzte Verwandlung‹ von Kazantzakis gelesen?«
»Wie seltsam. Ich lese gerade ›Bericht an Greco‹. «
»Kazantzakis stellt Magdalena als Hure dar, als eine Frau, nach der
sich Jesus seit seiner Kindheit sehnt, mit der ihn eine lebenslange sexuelle
Beziehung verbindet. Rabbis wären in jener Zeit verheiratet gewesen. Einige
glauben, sie habe ihm Kinder geboren.«
»Alle Einrichtungen für ledige Mütter tragen den
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