Der weiße Reiter
ich. «Aber wenn
sich ihnen eine günstige Gelegenheit bietet, werden sie nicht davor zurückschrecken, Euch die Kehle aufzuschlitzen. Davor
werden sie sich allerdings hüten, solange ich an Eurer Seite bin.»
Er hob an, mir zu widersprechen, sah aber wohl ein, dass ich recht hatte, und streichelte die Locken seiner Tochter. Edward
schlief bei seiner Mutter in der Hütte nebenan. Sein Husten wurde immer schlimmer und klang bedrohlich. Wir fürchteten alle,
es könnte der Keuchhusten sein, an dem kleine Kinder starben. Alfred zuckte bei jedem Hustenanfall zusammen. «Bist du gegen
Steapa angetreten?», fragte er.
«Wir haben gekämpft», antwortete ich knapp. «Aber dann kamen die Dänen, und wir konnten es nicht zu Ende bringen. Er hat geblutet,
ich nicht.»
«Er hat geblutet?»
«Fragt Leofric. Er war dabei.»
Er schwieg lange, dann sagte er leise: «Ich bin immer noch König.»
Über einen morastigen Sumpf, dachte ich, sagte aber nichts.
|238| «Und einem König gebührt die Anrede ‹Herr›», fuhr er fort.
Ich sah ihm einfach nur in sein schmales, bleiches Gesicht, auf dem der Schein des herunterbrennenden Feuers flackerte. Er
wirkte ernst, aber auch verängstigt, als kostete es ihn eine riesige Anstrengung, die letzten Reste seiner Würde zusammenzuhalten.
An Tapferkeit hat es Alfred nie gefehlt, aber er war kein Krieger und mochte die Gesellschaft von Kriegern nicht besonders.
In seinen Augen war ich ein Rohling; gefährlich, uninteressant, doch plötzlich unverzichtbar. Er wusste, dass ich ihm den
gebührenden Titel verweigern würde, und darum bestand er nicht darauf. «Was fällt dir an diesem Ort auf?», fragte er.
«Er ist feucht», antwortete ich.
«Was sonst noch?»
Ich hatte den Verdacht, dass er mir mit dieser Frage eine Falle stellen wollte, konnte aber keine erkennen. «Er lässt sich
nur auf flachen Kähnen erreichen», sagte ich, «und die Dänen haben keine flachen Kähne. Wenn sie sich aber welche beschaffen,
werden wir zu ihrer Abwehr mehr Kämpfer brauchen als Leofric und mich.»
«Er hat keine Kirche», erklärte er.
«Vielleicht hat er mir deshalb auf Anhieb gefallen.»
Er ging nicht auf meinen Spott ein. «Wie wenig wir doch über unser eigenes Königreich Bescheid wissen», sagte er verwundert.
«Ich dachte, es gäbe überall Kirchen.» Er schloss die Augen für einen Moment. Dann öffnete er sie wieder und schaute mich
traurig an. «Was soll ich tun?»
Ich hatte vorgeschlagen zu kämpfen, doch ihn erfüllte kein Kampfgeist, sondern nur Verzweiflung. Und so sagte ich ihm, was
er anscheinend hören wollte. «Ihr könntet in den Süden ziehen, in das Land jenseits des Meeres.»
|239| «Dort wäre ich nur ein weiterer Sachsenkönig im Exil», entgegnete er verbittert.
«Wir könnten uns aber auch hier versteckt halten», sagte ich. «Und wenn die Aufmerksamkeit der Dänen erlahmt, schlagen wir
uns zur Südküste durch und treiben ein Schiff auf.»
«Versteckt halten?», fragte er. «Sie wissen doch, dass wir hier sind, und stehen zu beiden Seiten der Marschen.» Der Mann
von dem Kahn hatte gesagt, dass eine dänische Flotte bei Cynuit aufgekreuzt sei, und das lag im Westen des Marschlandes. Ich
vermutete, dass Svein ihr Anführer war und dass er versuchen würde, Alfred zu finden. Der König, so glaubte ich, war verloren
und seine Familie genauso. Allenfalls Æthelflaed konnte darauf hoffen, so wie ich von einer dänischen Familie aufgezogen zu
werden. Wahrscheinlicher aber war, dass sie alle getötet würden, sodass kein Sachse mehr Anspruch auf den Thron von Wessex
erheben konnte. «Außerdem werden die Dänen auch die Südküste bewachen», meinte Alfred.
«Das werden sie», pflichtete ich ihm bei.
Er blickte hinaus auf das vom Nachtwind gekräuselte Wasser und den zitternden Widerschein des Mondlichts. «Die Dänen können
noch nicht ganz Wessex eingenommen haben», sagte er und zuckte zusammen, als Edward wieder qualvoll hustete.
«Wahrscheinlich nicht.»
«Wenn wir Männer hätten …» Er verstummte.
«Was könnten wir dann tun?», fragte ich.
Er deutete nach Westen. «Die Flotte angreifen und Svein schlagen, wenn es denn Svein ist, der vor Cynuit liegt. Dann die Hügel
von Defnascir besetzen. Mit jedem Sieg kämen mehr Männer zu uns. Wir würden immer stärker, und eines Tages könnten wir Guthrum
angreifen.»
|240| Ich dachte darüber nach. Seiner ausdruckslosen Stimme nach zu urteilen, vertraute Alfred kaum
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