Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
keine Flausen in den Kopf setzen. Sonst muss Walther, wenn er zurückkommt, ihm mit dem Lederriemen Bescheidenheit beibringen.«
»Josef wird es nie an Achtung für andere Menschen fehlen lassen, denn er weiß, dass ihr Recht, auf der Welt zu sein, ebenso groß ist wie das seine.«
Nizhoni sprach voller Ernst, denn sie setzte alles daran, den Jungen so zu erziehen, dass er ebenso höflich wie bescheiden war und niemals die Würde anderer verletzte. Nicht immer war Gisela mit ihr einer Meinung, aber sie nahm es hin, weil sie sich selbst zu matt fühlte, um dem munteren Bürschchen all das beibringen zu können, was es wissen musste.
»Ich gehe jetzt«, sagte Gisela und kehrte in die Küche zurück.
Dort nahm sie das leere Zuckerfässchen und das Geld an sich, das Anneliese ihr hingelegt hatte, und wandte sich zur Tür. Als sie draußen auf der Straße stand, wirbelten die Räder eines Wagens so viel Staub auf, dass er wie eine Wolke über sie hinwegzog und sie ihn auf den Zähnen spürte. Sie spuckte aus und sagte sich, dass so eine Stadt nichts für sie war, denn sie liebte die freie Natur. Auch war ihr das Geheul eines Kojoten lieber als das Gegröle des Betrunkenen, der ihr eben entgegenkam und sie mit seinem schwankenden Gang zum Ausweichen zwang.
»Bischt ’n hübschesch Ding!«, lallte er. »Hascht aber schon ’n Mann, weilste so ’n dicken Bauch vor dir herschiebscht.«
Gisela eilte weiter, so rasch sie konnte. Auch wenn Walther gelegentlich ein Glas Beerenwein oder Tequila trank, so hatte sie ihn noch niemals in dieser Weise betrunken gesehen wie diesen Mann.
Noch während sie darüber nachdachte, erreichte sie den Laden, trat ein und blieb vor dem Zuckerfass stehen. Sie wollte schon sagen, dass Jack ihr das mitgebrachte Gefäß füllen sollte, als ihr Blick auf das Preisschild fiel. Der Preis des Zuckers hatte sich seit ihrem letzten Besuch im Laden verdoppelt.
»Das gibt es doch nicht!«, rief sie empört. »Wollt ihr etwa mit Gewalt reich werden?«
Jack lächelte verlegen. »Tut mir leid, Misses Fitchner, aber wir verdienen nicht mehr daran als früher. Der Transport ist teurer geworden, weil Houstons Armee so viele Wagen braucht. Außerdem bekommen wir keine Waren mehr auf Kredit. Die verdammten Händler in Louisiana denken wohl, Santa Ana würde uns davonjagen, so dass sie auf ihren Rechnungen sitzenbleiben.«
»Schon gut! Aber wie sollen wir auskommen, wenn alles teurer wird?«
»Soll Mutter Belcher doch den doppelten Preis für die Übernachtung verlangen«, erklärte Jack gelassen.
»Und nächste Woche den dreifachen, was? Irgendwann wird niemand mehr euren Zucker kaufen, weil er ihn nicht mehr bezahlen kann.«
Gisela war empört. Da Anneliese jedoch Zucker brauchte, um ihre Gäste zufriedenzustellen, kaufte sie so viel, wie sie für die Summe bekam, die sie bei sich hatte.
Jack wog die Menge ab und zwinkerte ihr dann zu. »Ich habe Ihnen ein halbes Pfund mehr dazugetan, weil Ihr Mann und Sie so gute Kunden sind.«
»Danke!«, erwiderte Gisela und ärgerte sich dennoch. In ihren Augen war der jetzige Preis für den Zucker reiner Wucher. Sie zahlte, nahm das Fass und verließ den Laden mit einem knappen Abschiedswort.
Das kleine Fass war nun so schwer, dass sie es unterwegs ein paarmal absetzen musste. Beim dritten Mal sah sie nicht weit von sich drei Männer aufeinander einreden. Einer davon war der von den Siedlern zum Gouverneur gewählte Henry Smith und der zweite Jakob Schüdle, der seine Frau Gertrude auf eine so infame Weise losgeworden war. Gisela wollte schon zu dem Mann hingehen, um ihm deutlich zu sagen, was sie von ihm hielt. Da drehte ihr der dritte Mann das Gesicht zu, und es durchzuckte sie wie ein Schlag. Es war Nicodemus Spencer, der Mörder ihrer Mutter. In dem Augenblick bedauerte sie es, ihre Doppelpistole in Annelieses Hotel gelassen zu haben.
Als sie die Augen schloss, sah sie sich als kleines Mädchen mit der Fackel in der Hand vor dem toten Vater stehen, den Spencer gerade ausplünderte, während ihre Mutter an dem Messerstich verblutete, den der Leichenfledderer ihr versetzt hatte. Zwar hatten Walther und die Renitzschen Musketiere den Mörder, der damals ein einfacher Soldat der englischen Armee gewesen war, festnehmen können, doch er war durch das Einwirken eines englischen Offiziers seiner Strafe entgangen.
Gisela fragte sich, was sie tun sollte. In ihrer ersten Wut wollte sie das Zuckerfässchen stehen lassen und ihre Pistole holen. Doch es brachte
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