Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Vereinigung von Güte und Grausamkeit. Welche Eigenschaften sie von beiden Elternteilen mitbekommen hatte, vermochte sie nicht genau zu sagen. Selbstsüchtigkeit, zum Teil jedenfalls; Großzügigkeit in anderen Bereichen; Stolz und Selbstvertrauen; Ungeduld, aber auch Mitgefühl.
Weder sanft noch grausam war sie geworden, stellte sie fest. Es hätte schlimmer kommen können.
Doch eines wußte sie, während sie regungslos dastand, ohne den beißenden Wind zu spüren. Sie hatte sie beide geliebt; die Mutter, die sie nie gekannt hatte, und den Vater, dem sie nie etwas bedeutet hatte.
»Ich wollte immer, daß du stolz auf mich bist«, sagte sie laut. »Auch wenn du mich nicht lieben konntest, so wollte ich doch wenigstens, daß du mit mir zufrieden bist. Aber das war nie der Fall. Ham hat vollkommen recht, du hast mir mein ganzes Leben lang einen Schlag nach dem anderen versetzt – ich meine jetzt nicht die physischen Schläge, die waren harmlos, weil ich dir im Grunde genommen viel zu egal war. Aber meine Gefühle hast du mit Füßen getreten, und zwar öfter, als ich zählen kann. Jedesmal bin ich mit gesenktem Kopf wieder angekrochen gekommen wie ein geprügelter Hund, damit du mich weiter quälen konntest. Ich bin hier, um dir zu sagen, daß ich fertig bin mit dir. Oder daß ich zumindest versuchen werde, mich von dir zu lösen.«
Sie würde all ihre Kraft auf dieses Ziel verwenden.
»Du hast gedacht, du könntest uns drei gegeneinander ausspielen, das sehe ich nun ein. Aber den Gefallen tun wir dir nicht. Wir werden die Ranch behalten, du egoistischer Dreckskerl. Und vielleicht können wir sogar zu einer Familie zusammenwachsen, nur dir zum Trotz. Wir haben ja noch genug Zeit dazu.«
Sie drehte sich abrupt um und ging zurück.
Ben hatte sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen und war dankbar dafür, daß er keine Tränen auf ihrem Gesicht sah. Doch er hatte nicht erwartet, daß ein Lächeln, auch wenn es ein wenig grimmig schien, um ihre Lippen spielen würde, als sie wieder in den Jeep kletterte.
»Alles okay?«
»Mir geht’s gut.« Willa holte einmal tief Atem. »Wirklich gut. Beau Radley verkauft seinen Besitz«, fuhr sie übergangslos fort, während sie den Jeep wendete. »Ich kaufe einige seiner Maschinen und ein paar hundert Stück Vieh auf, und ich werde auch zwei seiner Männer engagieren.«
Der nahtlose Themenwechsel brachte ihn etwas aus dem Konzept, doch er nickte bedächtig. »Gut, gut.«
»Ich habe dich nicht um deine Zustimmung gebeten, sondern dir Fakten mitgeteilt, die dich in deiner Eigenschaft als Inspektor der Ranch interessieren dürften.« Sie bog in eine andere Zubringerstraße ein, die den Weg zum Hauptgebäude beträchtlich abkürzte. Der Wind frischte auf; kleine Böen, die die Temperaturen bis hart an die Grenze des Erträglichen sinken lassen würden, rüttelten an den Fenstern des Jeeps.
»Morgen habe ich den Monatsbericht fertig, dann kannst du ihn prüfen.«
Ben, der eine Falle witterte, kratzte sich am Ohr. »Wunderbar.«
»Soviel zum Geschäft.« Sie lächelte erleichtert, als sie in der Ferne die Lichter des Haupthauses aufblitzen sah. »Jetzt möchte ich dir einmal eine persönliche Frage stellen: Warum hast du mich eigentlich noch nie zum Essen oder ins Kino eingeladen, anstatt mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Wäsche zu gehen?«
Vor Überraschung fiel ihm beinahe die Kinnlade herunter. Er schluckte und räusperte sich heftig, ehe er die Sprache wiederfand. »Wie bitte?«
»Ständig lungerst du auf Mercy herum, begrabschst mich, wenn ich es zulasse, forderst mich oft genug auf, mit dir ins Bett zu gehen, aber du hast mich noch nicht ein einziges Mal gebeten, mit dir auszugehen.«
»Du möchtest, daß ich dich zum Essen ausführe?« Dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen, nicht im Zusammenhang mit Willa. »Oder daß wir zusammen ins Kino gehen?«
»Schämst du dich, in der Öffentlichkeit mit mir gesehen zu werden?« Sie hielt den Jeep an und zog die Handbremse, ließ jedoch den Motor laufen. Dann wandte sie sich ihm zu. Obwohl sein Gesicht halb im Schatten lag, konnte sie den verblüfften Ausdruck darauf erkennen. »Um sich mit mir im Heu zu wälzen, dazu bin ich dir gut genug, aber daß du dir ein sauberes Hemd anziehst und fünfzig Mäuse in ein Abendessen investierst, das ist wohl zuviel verlangt. Soviel bin ich dir offensichtlich nicht wert.«
»Wer um alles in der Welt hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Erstens habe ich
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