Der weite Himmel: Roman (German Edition)
lieber selbst vorbei und schmökert mit dir darin.« Inzwischen zog sich ihr Magen schon beim bloßen Gedanken an die Hochzeit zusammen. »Ich würde ja gerne noch bleiben, aber es wird allmählich dunkel.«
»Sie hat recht«, murmelte Sarah, wobei sie einen unbehaglichen
Blick aus dem Fenster warf. »Im Moment ist es für eine Frau nicht unbedingt ratsam, sich nachts allein im Freien aufzuhalten. Ben …«
»Ich werde sie begleiten.« Ohne auf Willas Protest zu achten, erhob sich Ben und holte seinen Mantel und seinen Hut. »Einer eurer Männer kann mich zurückfahren, oder ich leihe mir einen Jeep von euch aus.«
»Mir wäre entschieden wohler dabei«, betonte Sarah, ehe Willa erneut Einwände erheben konnte. »Wir alle würden besser schlafen, wenn Ben dich nach Hause bringt.«
»Na gut.«
Nachdem sie sich verabschiedet und die Familie sie zur Tür gebracht hatte, setzte sich Willa hinter das Steuer ihres Jeeps. »Du bist ein glücklicher Mann, McKinnon.«
»Wieso das denn?«
Willa schüttelte lediglich den Kopf und schwieg, bis das Haus außer Sichtweite war. »Vermutlich weißt du selber nicht, welches Glück du hast, weil es für dich selbstverständlich ist. Du kennst es nicht anders.«
Verwirrt drehte er sich zu ihr um und musterte ihr Profil. »Wovon redest du eigentlich?«
»Von Familie. Deiner Familie. Als ich bei euch in der Küche saß … ich war ja schon häufiger bei euch, aber mir ist noch nie bewußt geworden, was es heißt, eine richtige Familie zu haben. Doch heute ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Eine Familie bedeutet Herzlichkeit und Zuneigung, gemeinsame Vergangenheit, bedeutet Halt. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was es bedeutet, das alles entbehren zu müssen.«
Ihre Worte entsprachen der Wahrheit, nur hatte er seine Situation noch nie von ihrem Standpunkt aus betrachtet. »Du hast jetzt zwei Schwestern, Willa. Und daß zwischen euch ein Band besteht, das ist nicht zu übersehen.«
»Vielleicht stehen wir am Anfang einer gemeinsamen Zukunft, aber uns verbindet keine gemeinsame Vergangenheit. Keine Erinnerungen. Ich habe eben miterlebt, wie du eine Geschichte begonnen und Zack sie beendet hat. Ich habe eure Mutter über irgendeine lustige Begebenheit aus eurer Kindheit
lachen hören. An meine Mutter kann ich mich kaum erinnern. Nein, ich werde nicht sentimental«, versicherte sie ihm rasch. »Es hat mich einfach nur tief berührt, dich und deine Familie heute zu beobachten. So sollte es eigentlich sein. Jeder Mensch sollte eine Familie haben.«
»Da hast du wohl recht.«
»Auch darum hat er mich gebracht. Ich fange jetzt erst langsam an zu begreifen, um wieviel er uns drei betrogen hat. Uns alle drei, nicht nur mich allein. Ich möchte noch einen kleinen Abstecher machen.«
Als sie die Grenze des Mercy-Gebietes erreicht hatten, schaltete Willa den Allradantrieb zu und bog in eine verschneite Zubringerstraße ein. Ben fragte nicht, wo sie hinwollte. Er wußte es bereits.
Schnee bedeckte die Grabstätten und die Steine, er begrub auch die Grasflächen und die ersten zarten Blumen unter sich. Insgeheim verglich Willa das Bild, das sich ihr bot, mit einer Postkartenidylle. Reine, unberührte Natur. Nur Jack Mercys Grabstein, größer und prächtiger als alle anderen, ragte aus dem Schnee heraus in den allmählich dunkler werdenden Himmel.
»Möchtest du, daß ich mitkomme?«
»Nein, ich würde lieber alleine gehen. Könntest du bitte hier warten? Es dauert nicht lange.«
»Laß dir nur Zeit«, murmelte er, als sie aus dem Wagen kletterte.
Sofort versank sie knietief im Schnee. Langsam kämpfte sie sich voran. Es war bitterkalt, der schneidende Wind blies ihr ins Gesicht und wirbelte Schneeflocken auf, die in der Luft tanzten. Auf einer Anhöhe bemerkte sie ein Rudel Rehe. Unbeweglich standen sie dort, als würden sie über die Toten wachen.
Nur das Geräusch des Windes war zu hören, als sie sich mühsam einen Weg durch die weißen Schneemassen bis hin zum Grab ihres Vaters bahnte.
Der Grabstein trug die Inschrift, die er noch vor seinem Tode verfaßt hatte. Es war das Motto, nach dem er sein ganzes Leben gelebt hatte, ohne einen Gedanken an andere Menschen
zu verschwenden. Er hatte stets einzig und allein an sich gedacht. Aber was machte das heute noch für einen Unterschied? fragte sie sich. Er war tot, ebenso ihre Mutter, der man nachsagte, sie sei sanft und liebenswert gewesen. Aus dieser Verbindung war sie entstanden, überlegte Willa, aus der
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